Wie das Yin und Yang in der deutschen Anreizregulierung wieder in Einklang kommen können …

02.09.2021 | Auch hier zu finden im Web

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Aus meiner Sicht (zugegeben, die Sicht eines Betroffenen) ist etwas in Schieflage geraten bei der Umsetzung der Anreizregulierung in Deutschland. Mit den jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den Festlegungen der Bundesnetzagentur zur Höhe der Eigenkapitalzinssätze für Strom- und Gasnetzbetreiber und zum Generellen Produktivitätsfaktor ist sehr deutlich geworden, was sich über die letzten beiden Regulierungsperioden stetig entwickelt hat: Die Ausgewogenheit zwischen Juristerei und Ökonomie ist in den Entscheidungen der Bundesnetzagentur und insbesondere in deren gerichtlichen Überprüfungen erheblich aus dem Gleichgewicht geraten.

Über die Jahre hat die Rechtsprechung der Bundesnetzagentur stetig mehr Ermessensspielräume eingeräumt, sicher auch weil die in der deutschen Anreizregulierung verwendeten komplexen ökonomischen und ökonometrischen Konzepte zum Teil nur ausgewiesenen, einschlägigen Experten zugänglich sind. Es ist wohl anzuerkennen, dass eine materiell-inhaltliche Prüfung über den Rechtsweg kaum noch zu leisten ist. Da liegt die Ausflucht in das Regulierungsermessen nahe. Das Regulierungsermessen wird von den Gerichten in den Vordergrund gestellt, wohl auch aus einer gewissen Fachfremdheit heraus, ganz nach dem Motto: die BNetzA wird schon wissen, was sie tut, das sind ja die Experten.

Dieses grundsätzliche Problem war wohl immer vorhanden, hat sich aber über die letzten Jahre „aufgeschaukelt“. Von Regulierungsperiode zu Regulierungsperiode bauten sich neue Klagewellen auf. Da es in Deutschland keine Sammelklagen gibt, klagten buchstäblich hunderte und tausende von Netzbetreibern immer wieder gegen die gleichen Festlegungen – insbesondere eben zum Eigenkapitalzinssatz, zum Benchmark und zum Generellen Produktivitätsfaktor. Die BNetzA antizipiert diese Klagewellen und fokussiert sich daher bei der Beschlussfassung insbesondere darauf, dass die Entscheidung gerichtsfest ist. Plakativ wird das in der aktuellen EK-Zinsfestlegung – selbst der ökonomische Fachgutachter, der an sich ja eine sachliche Einordnung der richtigen Verzinsung vor dem Hintergrund der Kapitalmärkte geben sollte, geht in seinem Gutachten zunächst einmal ausführlich auf die bisherige Rechtsprechung ein. Mit der sachlich-inhaltlichen Frage der Ableitung eines angemessenen Eigenkapitalzinses für Netzbetreiber von der aktuellen Kapitalmarktsituation hat das ja nicht wirklich etwas zu tun.

Dieser Fokus auf gerichtsfeste Entscheidungen ist ja an sich nicht zu kritisieren. Nur besteht kein Gleichgewicht mehr zwischen der juristischen Form und dem ökonomischen Inhalt – der materielle Inhalt der Entscheidungen kommt inzwischen deutlich zu kurz. Aber nur mit einem harmonischen Yin und Yang, Beschlussfassungen, die genauso inhaltlich korrekt wie rechtsicher sind, ergibt sich auch Akzeptanz für die Entscheidungen für die Bundesnetzagentur.

Der Rückzug der Gerichte aus der inhaltlichen Befassung hat auch unangenehme Folgen für die Bundesnetzagentur. Die BGH-Entscheidungen zum Xgen (ich gehe hier jetzt mal auf den Branchenjargon zum Generellen Produktivitätsfaktor – Xgen – über) widerlegt beispielsweise nun gerade nicht die Aussage der Branche, dass die Festlegung inhaltlich falsch ist. Eben genau weil sich das Gericht bewußt mit den inhaltlichen Fragen nicht auseinandergesetzt hat, ist es auch nach dem verlorenen BGH-Verfahren keine Richterschelte, einen Xgen von 0,49 %-Punkten als wissenschaftlich nur schwer belegbar zu bezeichnen. Wer sich die diversen Veröffentlichungen des Regulierungsmanagements der Netze BW zum Xgen anschaut (und ich meine die echten Veröffentlichungen, nicht die Artikel von mir hier auf LinkedIn), der wird kaum eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Xgen in Abrede stellen können. Wir erkennen an, dass die Xgen-Festlegung juristisch einwandfrei ist. Wir haben aber umfangreich und detailliert belegt, dass sie inhaltlich deutlich zu kritisieren ist (um es mal milde zu formulieren). Und diese Kritik ist unwiderlegt – Akzeptanzverlust ganz praktisch und konkret.

In dieser deutschen Gemengelage mischt nun auch noch der Europäische Gerichtshof mit, der in seiner heutigen Entscheidung (2. September 2021) festgestellt hat, dass das Ausmaß der rechtlichen Normierung der deutschen Strom- und Gasnetzregulierung zu umfassend und dadurch die europarechtlich verankerte Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur unzulässig eingeschränkt ist. Infolgedessen erscheint es nun naheliegend, dass weitere Verantwortlichkeiten auf die Bundesnetzagentur übergehen. Und so könnte das Urteil des EuGH nun eine deutliche Veränderung mit sich bringen: Weniger rechtliche Vorgaben und (noch) mehr Entscheidungsspielräume für die Bundesnetzagentur. Das sich über die letzten Jahre im Rahmen der deutschen Rechtsprechung aufgebaute Thema der sehr weiten Auslegung des Regulierungsermessens und auch die damit einhergehenden Akzeptanzprobleme werden somit noch einmal größer. Und damit geht eine noch größere Verantwortung der Bundesnetzagentur für die Ergebnisse der Netzentgeltregulierung einher. Es ist dann ja schon eine spannende Situation, dass die Bundesnetzagentur die Regeln selber macht und anwendet: Wenn die Rechtssicherheit damit aber in einem Zirkelschluss ist, wird der Anspruch an die inhaltliche Richtigkeit nur umso größer. Das jetzt schon vorhandene Ungleichgewicht zwischen Form und Inhalt wird dann dramatisch.

Wie lässt sich diese Lücke nun schließen? Wie könnten das Yin und Yang in den Beschlussfassungen der Bundesnetzagentur wieder in Einklang gebracht werden? Wie kann der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Regulierungsfragen wieder zu ihrem Recht (sic) verholfen werden?

Sabine Streb, Dr. Birgit Staiger und Dr. Tobias Pfrommer vom Regulierungsmanagement der Netze BW stellen hier einen konkreten Vorschlag zur Diskussion: Ein unabhängiges wissenschaftliches Expertengremium könnte die materiell-inhaltliche Begutachtung und Überprüfung von Regulierungsentscheidungen übernehmen und dies bereits, bevor der übliche Rechtsweg gegebenenfalls beschritten wird. Mit der Möglichkeit, Anhörungen durchzuführen, Regulierungsentscheidungen zur erneuten Überprüfung an die Regulierungsbehörde zurück zu verweisen und generell durch die Veröffentlichung eigener gutachterlicher Stellungnahmen könnte ein derartiges Gremium nicht nur sachverständige Hinweise für ein späteres Gerichtsverfahren geben, sondern auch Anreize für eine bessere fachliche Qualität der ursprünglichen Festlegungen der Regulierungsbehörde setzen. Dies tut der Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur keinen Abbruch. Im Gegenteil – je häufiger die Beschlussfassungen der Bundesnetzagentur den Überprüfungen durch das wissenschaftliche Expertengremium standhalten, desto stärker und unabhängiger ist die Regulierungsbehörde. Fachliche Autorität entsteht, indem man sich Diskussionen stellt. Letztlich funktioniert auch nur so das Prinzip der „Checks and Balances“.

Dass im Übrigen die institutionelle Trennung von juristischer und inhaltlicher Prüfung von Regulierungsentscheidungen keine graue Theorie, sondern gelebte Regulierungspraxis ist, weiß ich aus meiner Berufserfahrung in Großbritannien. Dort habe ich seinerzeit (1997 - 2000) die damalige Institution der Monopoly and Mergers Commission, der MMC, kennengelernt, die mit wissenschaftlichen Experten aus der volkwirtschaftlichen Fachrichtung besetzt war und bei Streitfragen zwischen Regulierer und reguliertem Unternehmen Entscheidungen treffen konnte. Niemand – weder Unternehmen noch die diversen Regulierungsbehörden –  gingen gerne zur MMC. Es hatte etwas von Boromirs Aussage in Elronds Rat im ersten Teil des Herrn der Ringe (um mit Popkultur den Punkt mal plakativ zu machen): „Man geht nicht einfach so nach Mordor!“ Man rief auch nicht einfach so die MMC an … das hatte eine ungeheure (fachliche) disziplinierende Wirkung für den gesamten Regulierungsprozess. Der klassische Rechtsweg stand den beteiligten Parteien natürlich dennoch offen, aber da haben die Richter dann in der Tat nur noch die juristischen Formalia geprüft – inhaltlich war der Streitfall ausreichend gewürdigt.

Vielleicht ist das der Anreiz für die Debatten um die Anreizregulierung in Deutschland, der das Gleichgewicht von Recht und Ökonomie in Regulierungsentscheidungen wieder herstellen kann. 

Das angesprochene Diskussionspapier „Bessere Regulierungsentscheidungen durch ein ökonomisches Expertengremium für die Bundesnetzagentur: Zur Rechtsprechung des BGH und EuGH“ findet sich hier.

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