Von Anomalien, Paradoxien und dem Streben nach einer stringenten Netzentgeltkalkulation

16.06.2025 | Auch hier zu finden im Web

Verteilnetze
Regulierung
Netzentgelte

Dass eine Netzentgeltreform notwendig ist und tatsächlich jetzt wirklich einmal angegangen werden sollte, gehört fast schon zu den rituellen Forderungen zum Start einer jeden Legislaturperiode. Im Fokus stehen dabei in der Regel neu einzuführende Anreize – zeitvariable Netzentgelte, die die Energiewende unterstützen und Netzkunden dafür honorieren, ihren Stromverbrauch so zu verlagern, dass die Netze gleichmäßiger genutzt werden, oder gleich dynamische Netzentgelte, die Engpässe aus dem Netz für Verbraucher sichtbar machen.

Und wahlperiodisch grüßt das Murmeltier: Eine Netzentgeltreform ist in der jetzt gestarteten Legislatur notwendig, nicht nur, um wirtschaftliche Anreize zu setzen, sondern weil der Kompass für die grundsätzliche Logik unserer Netzentgeltkalkulation verloren zu gehen droht. Im ersten Abschnitt dieses Artikels wird dies an plakativen Beispielen aus der aktuellen Praxis verdeutlicht. Im zweiten Abschnitt werden die grundlegenden Fragestellungen dargelegt, auf die ein Netzentgeltsystem Antworten geben muss. Abschließend wird ein möglicher Ansatz für das weitere Vorgehen präsentiert. Dabei wird besonders beachtet, dass trotz der begrenzten Möglichkeiten des Gesetzgebers aufgrund der Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur sehr wohl auch auszufüllende Handlungsspielräume für die neue Bundesregierung bestehen.

I. Beispiele aus der aktuellen Praxis der Netzentgeltkalkulation

Die Netzentgeltkalkulation folgt einem einfachen Ansatz: Die Netzkosten werden vollständig auf die Entnahmemengen gewälzt. Mit seinem Netzentgelt zahlt der Netzkunde die gesamten Netzkosten seines Anschlusses. Also nicht nur die Kosten der Netzebene, an die er unmittelbar angeschlossen ist, sondern auch aller Netzebenen davor, die er ja auch für seine Versorgung mittelbar in Anspruch nimmt. Dies folgt der simplen Logik: Die Netzentgelte sollen die Kosten der Netznutzung abbilden.

Ein Industriekunde, der an die Mittelspannung angeschlossen ist, zahlt mit seinem Netzentgelt also die Kosten für die Mittelspannung, für die Umspannung von der Hoch- zur Mittelspannung, für die Hochspannung, für die Umspannung von der Höchst- zur Hochspannung und für die Höchstspannung. Für die Niederspannung zahlt er nichts, da er diese Netzebene ja auch nicht nutzt. Da sich also die Kosten von Spannungsebene zu Spannungsebene kumulieren, sollten auch die Netzentgelte von Spannungsebene zu Spannungsebene steigen.

Beispiel 1: Anomalie und Paradoxie

Die Netzentgelte der Übertragungsnetzbetreiber hatten für 2023 eine spannende, wenn auch wenig beachtete Anomalie. Für manche Netznutzungsfälle waren die Netzentgelte für die Höchstspannung leicht höher als die Netzentgelte für die nächste nachgelagerte Spannungsebene, die Umspannung zur Hochspannung. Das dürfte eigentlich nicht passieren, denn durch die Akkumulation der Kosten von Spannungsebene zu Spannungsebene sollte die nachgelagerte Spannungsebene höhere Netzentgelte (und nicht niedrigere) haben.

Der Unterschied war mit 1,630 ct/kWh für die Höchstspannung gegenüber 1,573 ct/kWh für die Umspannung nicht groß, er stellt aber eine Anomalie dar. Eine Ursache war ein Thema, das uns hier über den Artikel verschiedentlich begegnen wird: Die dezentralen Einspeisungen auf der nachgelagerten Spannungsebene. Die Übertragungsnetzbetreiber haben für die Netzentgelte 2025 darauf geachtet, diese Anomalie zu heilen, auch in Absprache mit der Bundesnetzagentur. In den Übertragungsnetzentgelten 2025 für die Umspannung von der Höchst- zur Hochspannung und für die Höchstspannung ist die netzwirtschaftliche Welt soweit wieder in Ordnung.

In den Verteilnetzentgelten ist sie dafür 2025 gewaltig verrutscht. Die Bundesnetzagentur hat für 2025 einen Lastenausgleich eingeführt. Besonders von der Energiewende betroffene Netzbetreiber bekommen einen Zuschuss zu ihren Netzentgelten, der über eine bundesweite Umlage von allen Haushalten, Gewerbe- und kleinen Industriekunden bezahlt wird. Die Auswirkungen sind deutlich und gehen offensichtlich über den Lastenausgleich der Energiewende hinaus. So sind die Netzentgelte für die Hochspannung bei einigen Verteilnetzbetreibern jetzt niedriger, vereinzelt bis zu 50 % geringer als die Netzentgelte der Höchstspannung. Wenn die kleine Unwucht in den Übertragungsnetzentgelten 2024 eine „Anomalie“ war, dann sind solche Netzentgeltunterschiede wohl schon Paradoxien.

Wenn das Netzentgelt der Hochspannung nur noch halb so hoch ist wie das in der Höchstspannung, hat der klassische Grundsatz, dass alle Netzebenen die Kosten ihrer vorgelagerten Netzebenen enthalten sollten, offensichtlich seine Bedeutung verloren. Und diese Verwerfungen in den Netzentgelten sind bedenklich. Netzentgelte sind Preise und haben damit Signalwirkung! Unternehmen richten sich an diesen Signalen aus. Ein Projektentwickler für ein Rechenzentrum wird jetzt immer versuchen, sich an die Hochspannung anzuschließen, auch wenn er mit seiner Leistung in der Höchstspannung besser aufgehoben wäre. Und er muss das Risiko berücksichtigen, dass in den kommenden Jahren auch diese Paradoxie „geheilt“ wird und er dann nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich in der schlechteren Spannungsebene hängt. Eine schwierige Frage, wenn man nicht genau weiß, welcher Grundsatz dann anstatt der kumulierten Kostenwälzung über die Spannungsebenen gelten soll.

Beispiel 2: Bundeseinheitliche Übertragungsnetzentgelte

Um die Lasten der Energiewende in Deutschland fair und einheitlich zu verteilen, wurden ab 2019 die Netzentgelte der vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) schrittweise vereinheitlicht. Seit 2023 gilt ein einheitliches Netzentgelt, das von allen vier ÜNB gleichermaßen angewandt wird. Man würde also erwarten, dass jeder Kunde, egal wo er in Deutschland sitzt, spezifisch – also pro kWh – denselben Kostenbeitrag für das Übertragungsnetz leistet, bundeseinheitlich eben.

Durch den Wegfall des Zuschusses für die Übertragungsnetzentgelte 2024 ist offensichtlich geworden, dass dem nicht so ist. Die Übertragungsnetzbetreiber mussten die Netzentgelte für 2024 zweimal veröffentlichen. Die erste Kalkulation von Ende September 2023 berücksichtigte noch den Zuschuss von 5,5 Mrd. €. Mit dem Wegfall lagen die Netzentgelte der zweiten Kalkulation Ende Dezember 2023 dann rund doppelt so hoch. Bei einer bundesweiten Gleichbelastung mit den Kosten des Übertragungsnetzes würde man erwarten, dass bei jedem Netzbetreiber die damit notwendige Netzentgeltanpassung für Haushaltskunden zumindest grob in der gleichen Höhe liegen würde (absolut, in ct/kWh).

Tatsächlich schwankten die Erhöhungen in der Niederspannung aber zwischen 0,6 ct/kWh und 3,5 ct/kWh (habe ich hier ausführlicher erläutert). Von einer gleichmäßigen Belastung aller deutschen Netzkunden mit den Kosten des Übertragungsnetzes kann also keine Rede sein. Ein Haushalt oder ein Industriekunde zahlt im Großraum Rhein-Ruhr deutlich mehr für das Übertragungsnetz als in Mecklenburg-Vorpommern – trotz gleicher individueller Abnahmeverhältnisse.

Beispiel 3: Zeitvariable oder fixe Netzentgelte?

Für die Netzentgelte wurde 2025 erstmals eine Zeitvariabilität eingeführt. Im Zuge der Umsetzung des § 14a EnWG müssen die Verteilnetzbetreiber jetzt Zeitfenster angeben, in denen der Bezug aus ihrem Netz mit günstigeren Netzentgelten abgerechnet wird. Dieser erste Schritt hin zu zeitvariablen Netzentgelten ist lang diskutiert und erwartet worden und reicht als solcher vielen auch noch nicht aus – die Zeitfenster sollen dynamisch statt statisch sein und die Preisunterschiede deutlich größer. Kurzum: Die Netzentgelte sollten zu einem Verhalten anregen, das die Energiewende unterstützt. Insofern wurde die Umsetzung des § 14a EnWG nur als erster Schritt in mehr Zeitvariabilität bei den Netzentgelten gesehen.

Es geht aber auch in die andere Richtung: Die schon erwähnte Unterstützungszahlung für besonders von der Energiewende getroffene Netzbetreiber finanziert sich durch eine Umlage nach § 19 StromNEV. Durch den notwendigen Ausgleichsbetrag von 2,4 Mrd. € stieg die Umlage von ca. 0,643 ct/kWh im Jahr 2024 auf 1,558 ct/kWh im Jahr 2025 und erhielt den neuen Namen „Aufschlag für besondere Netznutzung“. Dieser Ausgleichstopf und in Folge auch die Umlage wird über die nächsten Jahre ansteigen. Denn mit dem weiteren Zubau von erneuerbaren Energien steigen definierte Kennzahlen, die mehr Netzbetreiber in die Berechtigung eines Zuschusses bringen bzw. bei den schon berechtigten Netzbetreibern den Zuschuss ansteigen lassen. Der Betrag, der über die §-19-Umlage vereinnahmt und verteilt werden muss, wird also von Jahr zu Jahr steigen. Die Universität Dresden hat aufgezeigt, dass schon bis 2030 rund 60 % der Netzkosten damit nicht mehr über die Netzentgelte, sondern über die Umlage bezahlt werden (Analyse der Auswirkungen einer überregionalen Wälzung von Stromnetzentgelten in Deutschland, Dominik Möst, Andreas Büttner, Dimitrios Glynos, Technische Universität Dresden, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Professur für Energiewirtschaft, Dresden, 2024).

Der „Aufschlag für besondere Netznutzung“ ist – wie alle Steuern und Abgaben – ein bundesweit einheitlicher, fixer Cent-pro-kWh-Betrag. Damit entstehen zwei unterschiedliche Entwicklungsperspektiven für die zukünftigen Netzentgelte. Auf der einen Seite folgt man dem Zielbild der Zeitvariabilität, ein Weg in immer genauere und komplexere Preisstrukturen. Auf der anderen Seite wird mit der Überführung der Netzentgelte in eine Umlage die bisher immerhin bestehende Differenzierung der Netzentgelte zwischen einem Leistungs- und einem Arbeitspreis schrittweise aufgelöst und in einen reinen Arbeitspreis überführt, der dann auch nicht zeitvariabel, sondern fix ist. Und dies wird wohl auch absehbar so bleiben, denn von einer Zeitvariabilität der Steuern und Abgaben sind wir noch sehr weit entfernt.

Kleiner Exkurs: Die sozialen Aspekte von Umlagen

Die Umschichtung von einem Arbeits- und Leistungspreis-Netzentgelt zu einer reinen Arbeitspreis-Abgabe nach § 19 StromNEV hat aber noch einen weiteren Effekt. In den bestehenden Umlagemechanismen des § 19 StromNEV sind Regelungen angelegt, die Großverbraucher im internationalen Wettbewerb entlasten sollen: Für Großabnehmer wird ab 1 GWh nur noch eine deutlich reduzierte Abgabe fällig – 0,05 ct/kWh (ggf. noch weniger) statt 1,558 ct/kWh im Regelsatz. Das heißt, der Entlastung für besonders für die Energiewende betroffene Verteilnetzbetreiber wurde gleichzeitig auch eine Umverteilung zulasten der Haushalte und zugunsten der Industrie beschlossen.

Die Sorge über die Energiepreise ist allgegenwärtig. Regelmäßig wird eine Reduzierung der Stromsteuer diskutiert, um Strom für die Privathaushalte bezahlbar zu halten. Inwieweit diese implizite Umverteilung in das Gesamtbild passt, ist offen. Dass auf diesem Weg schon 2030 rund 60 % der Netzkosten (Studie der Universität Dresden, s. o.) von Haushalten, Gewerbekunden und Kleinindustrie gezahlt werden könnten, wird diese Debatte weiter befeuern.

II. Grundlegende Fragen der Netzentgeltkalkulation

Das sind soweit nur Beispiele für ein Netzentgeltsystem, das über die Jahre immer wieder um einzelne Aspekte angepasst oder erweitert wurde, das man aber nie grundsätzlich hinterfragt hat, obwohl sich die Stromwirtschaft schon sehr grundsätzlich verändert hat. Die eigentliche Systematik der Netzentgeltkalkulation stammt noch aus den 1970er Jahren, also der tiefsten Monopolzeit der deutschen Energiewirtschaft. Plakativ sichtbar wird dies, wenn man sich die Anlage 1 der Stromnetzentgeltverordnung anschaut. Dort sind Abschreibungsdauern für die wesentlichen energiewirtschaftlichen Investitionsgüter aufgeführt. Die Anlage 1 hat unverändert die Kalkulationsleitfäden der Bundestarifordnung über die Verbändevereinbarungen bis hin zur Einführung der Stromnetzentgeltverordnung überdauert. Und so finden sich in der Netzentgeltverordnung neben den Abschreibungsdauern für Freileitungen und Kabel auch die für Kernkraftwerke und andere Erzeugungsanlagen.

Die Stromnetzentgeltverordnung hat in ihren Kernzügen die Netzentgeltkalkulation der Verbändevereinbarungen übernommen. Diese wurden nach der Liberalisierung 1998 gesetzt und stützten sich wesentlich auf das Kalkulationsschema der Bundestarifordnung Elektrizität. Unsere aktuelle Herangehensweise an die Netzentgeltkalkulation reflektiert eine Stromwirtschaft, in der elektrische Energie in Großkraftwerken erzeugt, über das Übertragungsnetz überregional verteilt und über ein Verteilnetz zu den Endkunden gebracht wird. Der Strom kennt bzw. kannte in dieser Welt nur eine Richtung – von den zentralen Großkraftwerken zum Endkunden.

Trotz aller Veränderungen in der Energiewirtschaft hat man dieses Kalkulationssystem nie nachhaltig geändert, insbesondere da eine Änderung auch immer mit einer Kostenumverteilung bei den Netzkunden und damit mit neuen Betroffenheiten einhergeht. Details der Kalkulation wurden angepasst, es wurden politische Ziele integriert, aber grundsätzlich mit den darunterlegenden Prinzipien und ihrer Eignung für die neue Energiewelt wurde sich nie auseinandergesetzt. Sind Probleme aufgetaucht, hat man das Symptom behandelt. Der jüngste Schritt bestand in der Verlagerung von besonders hohen Energiewendekosten der Verteilernetzbetreiber in die Umlage. Mit Blick auf die Entwicklungen der Energiewirtschaft und der Netzentgelte wird eine grundlegende Auseinandersetzung aber dringend notwendig. Drei Grundsatzfragen stellen sich dabei offensichtlich:

1. Frage: Dominiert in der Netzentgeltkalkulation die Finanzierungs- oder die Lenkungsfunktion?

Die zeitvariablen Tarife, die jetzt mehr und mehr eingeführt werden, stellen gezielt auf eine Lenkungsfunktion ab. Stromverbrauch soll in gewünschte Zeitfenster verlagert werden und das Netzentgelt soll dazu einen Anreiz setzen. Im Sommer 2024 spielten zwölf Energieökonomen in einem vielbeachteten Artikel mit dem Gedanken von nodalen Preisen, also Preisen, die integriert Strom- und Netzengpässe zeitlich und örtlich differenziert abbilden (Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise, Lion Hirth, Veronika Grimm, et. al., FAZ, 10.07.2024). Wenn über das Netzentgelt Verhaltensanreize, also eine Lenkungsfunktion, gesetzt werden sollen, dann bedeutet das – auch unter der Annahme von einer Effizienzsteigerung – immer eine Umverteilung.

Es stellt sich also nicht nur die Frage, wie positives Verhalten im Sinne der durch das Netzentgelt gesetzten Anreize belohnt wird, es stellt sich auch die Frage, wer die Gegenposition, die „Strafe“, nimmt. Wer zahlt mehr, weil sich einzelne Marktteilnehmer im Sinne der gesetzten Anreize verhalten? Und ist es vertretbar, anderen Haushalten, Gewerbe- und Industriebetrieben ein höheres Netzentgelt zuzumuten, weil andere Netznutzer Beiträge vermeiden? Diese erste Frage nimmt an Bedeutung zu, wenn sie mit der zweiten Frage der Zielrichtung einer Netz- oder Systemdienlichkeit kombiniert wird.

2. Frage: Netz- oder Systemdienlichkeit als Ziel?

Wenn Netzentgelte eine Lenkungsfunktion erhalten sollen, stellt sich die Frage nach dem Ziel. Vor allem bei der Elektromobilität verwischen da manchmal die Grenzen: Wenn über die Beladung von vielen Elektroautos die Stromerzeugung einer Windfront „weggespeichert“ wird und die Netzentgelte dazu unterstützende Anreize setzen, ist das grundsätzlich systemdienlich. Das muss nicht unbedingt netzdienlich sein, vielleicht sogar im Gegenteil: Wenn alle Wallboxen in einer Straße gleichzeitig laden wollen, dann wird dies den Ortsnetzstrang ziemlich sicher an seine Grenze führen.

Gerade wenn man übergreifend mit dem Netzentgelt eine Systemdienlichkeit fördern will, leidet die Verursachungsgerechtigkeit in der Netzentgeltkalkulation. Die Elektromobilität braucht den Netzausbau. Wenn sich das Netzentgelt aber nicht am Ausbau, sondern an der Netznutzung orientiert, wird dieser Netzausbau von allen Netzkunden getragen. Rund 13 Mio. Haushalte in Deutschland haben gar kein Auto – warum will man diese übermäßig stark für die Mobilitätswende mit höheren Stromnetzentgelten belasten?

3. Frage: Wie hält man es mit der dezentralen Einspeisung?

Eine der großen Umwälzungen der Energiewende ist der Wandel von einer zentralen hin zu einer dezentralen Erzeugungsstruktur. Mit Ausnahme der großen On- und Offshore-Windparks haben sich fast alle erneuerbaren Anlagen dezentral im Verteilnetz angeschlossen. Zu Beginn der Energiewende wurde hier ein Windfall-Profit für die Verteilnetzbetreiber gesehen: Mit jeder dezentral erzeugten Kilowattstunde wurde die Entnahme einer Kilowattstunde aus dem vorgelagerten Netz, in der Regel dem Übertragungsnetz, und damit einhergehende Netzentgelte „gespart“. So entstand der Ansatz, dass im Sinne einer fairen Behandlung der dezentralen (erneuerbaren) Erzeugung diese Einsparung dem Anlagenbetreiber (oder der EEG-Umlage) vergütet werden muss. Tatsächlich wurden natürlich keine Kosten gespart, da das vorgelagerte Netz ja nicht reduziert werden konnte. Die dezentrale Einspeisevergütung wurde ab 2019 schrittweise abgeschafft, um die damit einhergegangene deutliche Steigerung der Netzentgelte zurückzunehmen.

Aber die Frage, wie eine verursachungsgerechte Berücksichtigung der dezentralen Einspeisung in der Netzentgeltkalkulation aussieht, ist damit weiterhin offen. Aus dem Netz der Übertragungsnetzbetreiber werden etwas mehr als 200 TWh von den angeschlossenen Verteilnetzbetreibern entnommen. Der Endkundenverbrauch dieser Verteilnetzbetreiber beträgt rund 500 TWh. Die Differenz erklärt sich durch Erzeugung, die direkt in diese Verteilnetze einspeist.

Das Übertragungsnetzentgelt enthält neben den Kosten für die Infrastruktur auch die Kosten für die Systemführung und -sicherheit. Die gesamte Endkundenentnahme definiert über ihr Verhalten den Bedarf an Regelenergie. Alle Endkunden befürworten es wahrscheinlich, dass die Übertragungsnetzbetreiber Pläne für den Schwarzstart haben und Kraftwerke für die Schwarzstartfähigkeit vergüten, oder mit der Vorhaltung und dem Einsatz von Netzreservekraftwerken die Systemsicherheit gewährleisten. Warum bleiben dezentral erzeugte Energiemengen bei der Bepreisung außen vor bzw. leisten hier keinen Beitrag?

III. Verursachungsgerechtigkeit als führendes Prinzip in der Netzentgeltkalkulation

Das Netzentgeltsystem braucht eine grundlegende Überarbeitung. Die jetzt sichtbaren Schieflagen im Netzentgeltbereich werden sich in den nächsten Jahren verschärfen. Schon jetzt sind die Debatten um die Kostenverteilung in der Energiewende allenthalben sichtbar. Die norddeutschen Bundesländer befürworten einen Preiszonensplit in der Hoffnung auf günstigere Energiepreise. Die energieintensive Industrie zeigt auf, dass sie ohne die Fortschreibung der Netzentgeltbefreiungen nur schwerlich eine Perspektive am Standort Deutschland sieht. Projektentwickler für Batterien und Elektrolyseure weisen darauf hin, dass diese perspektivischen Stützen einer fortschreitenden Energiewende ohne Netzentgeltbefreiung nicht wirtschaftlich sind. Die Sozialverbände zeigen auf, dass die Strompreise schon jetzt für die sozial schwächsten Haushalte kaum noch zu stemmen sind. Wir werden nicht immer das jeweils nächste dringende Problem dadurch lösen können, in dem wir eine weitere Locke in das bestehende System einbauen. Die vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, dass die sich damit ergebenden inhärenten Widersprüche spürbarer werden.

Die Vorgaben zur Netzentgeltkalkulation durch die Regulierung sind der Ersatz für die Preisbildung im Wettbewerb. Am Ende sind auch die reguliert bestimmten Netzentgelte Preissignale, an denen sich „Wirtschaftssubjekte“ ausrichten. Damit brauchen auch diese Preissignale eine Verlässlichkeit. Für diese Verlässlichkeit braucht der Regulierungsrahmen eine innere Struktur und Stabilität, die transparent nachvollziehbar ist. Das erreicht die aktuelle Netzentgeltkalkulation nicht mehr.

Sie können hier einen kleinen Selbsttest durchführen: Wenn Sie es in diesem Artikel bis hierin durchgehalten haben, sind Sie energiewirtschaftlich interessiert und haben sicher auch mindestens ordentliche Kenntnisse, wie der Hase in der deutschen Energiewirtschaft läuft (um es mal ganz untechnisch zu schreiben). War Ihnen klar, dass das bundeseinheitliche Übertragungsnetzentgelt nicht bundeseinheitlich wirkt oder dass mit der Unterstützung für besonders von der Energiewende betroffene Netzbetreiber in eine massive Umverteilung zulasten der privaten Haushalte und Gewerbekunden eingestiegen wurde?

Die Netzentgeltkalkulation sollte wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zurückgeführt werden – die Finanzierung der Netzinfrastruktur. Dafür sollte sich das Netzentgeltsystem wieder stärker am Verursachungsprinzip ausrichten. Von einer so gesetzten Grundausrichtung lässt sich dann über besondere Lenkungsaspekte diskutieren. Und diese recht abstrakte Grundausrichtung lässt sich in folgenden Punkten konkretisieren:

  • Finanzierung aller netzfremden Kosten aus dem Staatshaushalt:

    Das beinhaltet insbesondere Kosten für Reservekraftwerke und für Redispatch, also Kosten, die durch politische Entscheidungsprozesse entstanden sind und weder den Netzkunden noch den Netzbetreibern angerechnet werden können. Dies stützt auch eine soziale Ausrichtung des Netzentgelts, denn im Gegensatz zur Steuerfinanzierung ist das Netzentgelt sozial unreflektiert.

  • Stärkere Orientierung an den Anschlussleistungen und nicht an der bezogenen Leistung und Arbeit:

    Kostentreiber insbesondere in den höheren Spannungsebenen sind die vorgehaltenen („reservierten“) Anschlussleistungen von Kunden und nachgelagerten Netzen. Insofern sollte sich die Bepreisung auch an diesem Kriterium ausrichten. Hieraus ergibt sich auch ein Anreiz für die Rückgabe von freien Kapazitäten, der bei den knapper werdenden Anschlusskapazitäten im Netz notwendig erscheint.

  • Im Haushaltsbereich eine stärkere Betonung eines Grundpreises, ggf. in einer Staffelung nach Anschlussgröße:

    Ein „Prosumer-Haushalt“ sollte nicht mit PV-Anlage und Batterie seine Mitfinanzierung des Netzes deutlich reduzieren können, wenn er in einer winterlich trüben Wetterphase seinen Netzanschluss wie immer (und zeitgleich mit allen anderen „Prosumern“) voll in Anspruch nehmen möchte.

  • Lenkungsaspekte sollten netzdienlich sein:

    Die obigen Punkte führen zu einer stärkeren Orientierung an der Anschlussleistung. Der Arbeitspreis kann damit stärker die Funktion eines (zeitvariablen) Knappheitssignals übernehmen, wenn es zu Netzengpässen kommt.

  • Konsequente Ausrichtung an der Kostenwälzung:

    Strukturen und Mechanismen, die zu Anomalien (und Paradoxien) führen, sollten vermieden werden. Im Zuge einer deutlich stärkeren Leistungsorientierung könnten beispielsweise die Gleichzeitigkeitsfunktionen obsolet werden, was die „Netzentgeltanomalien“ vermeiden könnte.

  • Keine versteckten Überraschungen:

    Umverteilungen zwischen Kundengruppen werden nur bewusst und transparent vorgenommen.

Diese Punkte sind sicher kein Netzentgeltsystem. Sie sind nicht vollständig und sicher auch diskutabel. Das konkrete System muss von der Bundesnetzagentur gesetzt werden, die hier in ihrer vom Europarecht garantierten Unabhängigkeit handelt. Insofern kann ein Netzentgeltsystem im engen Sinne nicht Gegenstand der Politik bzw. eines Koalitionsvertrages sein. Aber die o. a. Punkte sind in ihrer Natur so grundlegend, dass sie sehr wohl als politische Vorgaben für eine unabhängige Regulierungsbehörde gelten könnten. Man denke kurz den Umkehrschluss: Darf die Frage, welche sozialen Umverteilungen man mit einem Netzentgeltsystem vornimmt, allein von einer Regulierungsbehörde entschieden werden? Insbesondere wenn die Umverteilungen Größenordnungen annehmen, die sonst im politischen Prozess verhandelt werden?

Die Bundesnetzagentur hat die Probleme der Netzentgeltstruktur erkannt und mit einer Konsultation den Prozess einer Netzentgeltreform auch gestartet. Dies muss auch politisch begleitet werden. Die stärkere Betonung einer verursachungsgerechten Finanzierung der Netzinfrastruktur, die Abschaffung von impliziten Umverteilungen, die Beachtung von sozialen Aspekten und insbesondere auch eine Zusage, netzfremde Kosten in den Staatshaushalt zu überführen sind wesentliche Aspekte und Vorgaben einer Netzentgeltreform, die politisch gesetzt werden müssen und auch eingefordert werden können.

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