Was mich Advanced Dungeons & Dragons über die Versorgungssicherheit der Stromversorgung gelehrt hat

10.01.2020 | Auch hier zu finden im Web

Energiewirtschaft
Versorgungssicherheit
EEG

Sie sind eine spannende Lektüre: die ersten Entwürfe des Kohleausstiegsgesetzes. Auf 15 Seiten wird in großer Detailtiefe die Ausschreibung der stillzulegenden Kohlekraftwerkskapazitäten geregelt – keine einfache Materie, um sich hineinzudenken. Wie man an den aufkommenden Diskussionen sieht, ist eine faire Ausschreibung eine schwierige Aufgabe. Der für mich spannendste Paragraf kommt aber eher zum Ende - § 31 (in „meinem“ Entwurf) mit der Überschrift „Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsver­sor­gungs­sys­tems und preisgünstige Versorgung mit Elektrizität“. Das Bundeswirtschaftsministerium soll regelmäßig prüfen, „ob die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems durch die Maßnahmen dieses Gesetzes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht unerheblich gefährdet oder gestört ist“. Und wenn eine Gefährdung oder Störung vorliegt, wird die elaborierte Ausschreibung einfach angepasst oder gleich ganz ausgesetzt.

Wir haben uns angewöhnt, die Versorgungssicherheit der Stromversorgung (bezogen auf die Stromerzeugung) in Leistungsbilanzen zu betrachten. Wir vergleichen die Kapazität des Kraftwerkparks mit der Spitzennachfrage – ist die Kapazität des Parks (deutlich) größer, ist Versorgungssicherheit gegeben. Da Kraftwerke auch einmal ausfallen können, wird in so einer Betrachtung der einzelne Block nur korrigiert mit seiner Ausfallwahrscheinlichkeit einbezogen – ein typischer Kohlekraftwerksblock mit 600 MW und 10 % Ausfallwahrscheinlichkeit geht also nur mit 540 MW in die Summe ein. Erzeugung aus Wind und PV setzt man dabei gerne mit einer Leistung von Null an, da sie nicht sicher planbar zur Verfügung stehen. Der deutsche Kraftwerkspark hat damit (nach dem Kernenergieausstieg) eine Kapazität von ca. 90 GW, wie die nachfolgende Tabelle zeigt.

Bei einer Spitzenlast in Deutschland von ca. 83 GW sieht diese (sehr einfache) Leistungsbilanz komfortabel aus. Das Problem dämmert einem, wenn man sich vergegenwärtigt, was die Zahl 90,5 in der Tabelle wirklich ausdrückt. Fragt man sich, wie viel Kapazität der Kraftwerkspark zu einem Zeitpunkt in der Zukunft (zum Beispiel dem der Höchstlast) zur Verfügung stellt, dann ist „90,5 GW“ die Antwort mit der höchstenWahrscheinlichkeit. Es könnte auch sein, dass der Kraftwerkspark „wegen Pech“ nur 88 GW zur Verfügung hat oder – weil es gut läuft – 95 GW. Nur diese beiden Ereignisse haben geringere Wahrscheinlichkeiten als 90,5 GW. Leider hat dies aber auch eine einfache mathematische Konsequenz: Mit einer Wahrscheinlichkeit von annähernd 50 % liegt die verfügbare Kraftwerkskapazität unter 90,5 GW – es ist nicht klar, wie viel darunter, aber wenn es um die Sicherheit der Stromversorgung geht, ist 50 % eigentlich eine recht hohe und beunruhigende Wahrscheinlichkeit. Trotzdem beenden Leistungsbilanzvergleiche an dieser Stelle in der Regel die Analyse.

Eigentlich interessiert uns, welche Leistung nicht mit 50 %, sondern mit nur noch 5 % Wahrscheinlichkeit unterschritten wird (den Wert 5 % bitte erst einmal als gegriffen annehmen, ich komme gleich darauf zurück). Das ist bestimmbar (wie das prinzipiell geht, habe ich hier einmal erläutert) und sieht für den Kraftwerkspark der Tabelle so aus – zugegeben, holzschnittartig und wieder ohne Wind, PV und Kernenergie:

Interessiert einen also die Leistung, die mit 5 % Wahrscheinlichkeit nicht unterschritten wird, ist man nicht mehr bei 91 GW, sondern nur noch bei 85 GW. Es ist offensichtlich, dass die Betrachtung über Leistungsbilanzen, d. h. über den Erwartungswert der verfügbaren Kapazität, für eine Versorgungssicherheitsbetrachtung ungeeignet ist, weil der Erwartungswert nicht interessiert. Es interessieren die Werte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit erreicht werden – und möchte man den Wert nehmen, der nur noch in 1 % der Fälle unterschritten wird, sich also 99 % sicher sein, dass die Nachfrage auch gedeckt wird, dann sind es nur noch 83 GW.

Persönlich bin ich bei der Versorgungssicherheit eher der 99 %-Typ. Die 95 %- bzw. 5 %-Marke habe ich gewählt, weil dies das Sicherheitsniveau ist, das die Übertragungsnetzbetreiber bei der Berechnung der Leistungsbilanz ansetzen (Siehe Bericht der deutschen Übertragungsnetzbetreiber zur Leistungsbilanz 2017 - 2021, siehe Seite 9). Ich habe früher gerne Advanced Dungeons & Dragons gespielt – Spiele, in denen ein 20-seitiger Würfel eine wichtige Rolle spielt und bei dem eine gewürfelte „20“ (mit 5 % Wahrscheinlichkeit…) das Spiel in neue überraschende Bahnen lenken kann, beispielsweise, weil man dem übermächtigen Drachen doch einen tödlichen Streitaxthieb versetzen kann – und an so einem Spieleabend kam es schon öfter vor, dass eine 20 fiel. Deshalb glaube ich, dass wir eine öffentliche Diskussion über das Niveau der Versorgungssicherheit brauchen, die wir haben wollen.

Vor allem aber ist es dringend notwendig, dass wir die Diskussion rund um einen Kohleausstieg konstruktiv führen: Es geht um den Aufbau eines neuen Energieversorgungssystems. Da sind die Ausschreibungsmodalitäten für den Rückbau der Kohlekraftwerke ein wichtiger Punkt, aber es ist deutlich mehr zu regeln, damit das ganze funktionieren wird. Wir müssen beispielsweise deutlich mehr Nachfrageflexibilität in die Systembetrachtung einbeziehen (und dafür die Grundlagen schaffen). Wir müssen die Bereitstellung von Versorgungssicherheit neu durchdenken, um auch die Chancen der Erneuerbaren Energien zu nutzen – ein Kohlekraftwerksausfall ist ein zufälliges Ereignis, Wind und Sonne sind hingegen auf eine Woche (gut) prognostizierbar (hierzu habe ich hier mal ein paar Gedanken dargelegt). Und wir müssen sagen, in welche Erzeugung wir einsteigen wollen, nachdem der Ausbau der Erneuerbaren ja nur noch deutlich langsamer verläuft. Sonst wird der Kohleausstieg nicht stattfinden – der wird nämlich sonst abgesagt. Das darf nicht passieren, ist aber im Entwurf in § 31 schon geregelt.

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