Ein Graph und seine Geschichte: Wenn alles nach einer Pfeife tanzt

16.01.2023 | Auch hier zu finden im Web

Energiewirtschaft
Versorgungssicherheit
Großbritannien

Es soll ja diese Fußballspiele für die Ewigkeit geben. Klassiker, deren Spielzüge noch nach Jahren von Fußballconnaisseusen und -connaisseuren diskutiert werden. Wobei man zugestehen muss, dass sich das ganz wesentlich aus dem nationalen Gedächtnis speist. Kaum ein Engländer hat von „der Schlammschlacht von Frankfurt“ gehört – ein Spiel, dass auch ich nur aus den Erzählungen meines Vaters kenne. Und wir alle wissen, wer aus dem Hintergrund schießen müsste. Umgekehrt: Die wenigsten Deutschen werden sich an das Spiel von St. Etienne bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich erinnern – England gegen Argentinien.

Weltmeisterschaftsspiele zwischen England und Argentinien waren damals „emotional etwas aufgeladen“, nicht nur wegen des Falklandkrieges. Beim letzten WM-Aufeinandertreffen 1986 in Mexiko war England durch „die Hand Gottes“ ausgeschieden. Da war also noch eine Rechnung offen. Ich guckte das Spiel in meiner damaligen WG in Leamington, einem kleinen Ort bei Coventry. Es war ein aufregendes und ein biestiges Spiel. Nach einer Viertelstunde stand es durch zwei Elfmeter schon 1:1. In der 16. Minute schickte David Beckham mit einem kurzen wie genialen Pass Michael Owen auf einen Sololauf vom Anstoßkreis bis zum erfolgreichen Torschuss. Kurz vor der Pause konnte Argentinien mit einem sehenswerten Freistoßtrick auf 2:2 ausgleichen.

Das wahre Drama kam dann aber kurz nach dem Wiederanpfiff. In der 47. Minute wurde David Beckham gefoult und trat – auf dem Boden liegend, vier Meter vom Schiedsrichter entfernt – nach. Es war das luschigste Nachtreten, das ich jemals gesehen habe – man konnte Beckham kein ernsthaftes Interesse unterstellen, dem Argentinier auch nur ansatzweise weh zu tun. Aber es war eben zweifellos ein Nachtreten und folgerichtig bekam er die rote Karte. Heldenhaft retteten nun die Engländer in Unterzahl das 2:2 nicht nur über die 90 Minuten, sondern auch noch über die halbe Stunde der Nachspielzeit. Und dann kam es, wie es fast immer bei einer WM kommt: England verlor das Elfmeterschießen.

Wie sehr so ein Spiel eine Nation bewegen kann, zeigt der Lastgang auf dem Bild – denn es ist eben der Lastgang von England und Wales (Schottland und Nordirland sind im Vereinigten Königreich eigene Regelzonen) während dieses Spiels.

Quelle: NGC

Man sieht, wie das ganze Land das Spiel schaut. Nur vor einem Fernseher sitzen, zu Hause oder in der Kneipe, verbraucht letztlich nicht wirklich viel Strom – die Last fällt über die erste Halbzeit kontinuierlich bis auf unter 29 GW ab, um dann mit dem Halbzeitpfiff sprunghaft um 2 GW anzusteigen.

Was diesen Lastsprung ausgelöst hat, ist klar – der Pfiff von Kim Milton Nielsen in St. Etienne. Was ihn aber konkret ausgemacht hat, darüber kann ich nur spekulieren. Ich vermute zwei Ursachen: Zum einen Tee: In England wird fortwährend Tee getrunken (das Bild, dass die Lightning Seeds im Video zu ihrer ersten "Three Lions"-Version vom englischen WG-Leben zeichnen, entspricht ziemlich genau meiner Lebenserfahrung). Und wenn (nur?!) 1 Million Haushalte sich entscheiden, die Halbzeitpause mal schnell für den Teenachschub zu nutzen und ihren Wasserkocher (typischerweise 2 kW) anwerfen, dann sind das allein schon 2 GW Last, die plötzlich in die Nachfrage drückt.

Zum anderen eben das, was man erledigt, wenn man ein spannendes Fußballspiel mit Tee (oder Bier) schaut und optimal vorbereitet in die zweite Halbzeit gehen will. Und wenn in allen englischen Haushalten auf die Toilettenspülung gedrückt wird und damit alle Haushalte gleichzeitig neun Liter Wasser nachziehen, dann laufen die Hochbehälter leer und müssen nachgefüllt werden. Infolgedessen springen überall im Land die Wasserpumpen an.

Welcher Teil des Flüssigkeitszyklusses auch immer den Lastsprung auslöst – für den systemverantwortlichen Übertragungsnetzbetreiber, die National Grid Corporation (NGC), ist er ein Problem (aus der praktischen Erfahrung des Erlebens des 30. Juni 1998 in England kann ich sagen: eines, das NGC gelöst hat). Innerhalb von ein/zwei Minuten 2 GW Leistung ans Netz zu bringen ist keine Kleinigkeit (wenn man es so sehen will: Das ist die Leistung von zwei Kernkraftwerken). Bewerkstelligen kann man das eigentlich nur mit Pumpspeicherkraftwerken.

Sicher ist aber, dass diese Lastsprünge wohl komplett „hausgemacht“ sind, d. h. durch das Verbrauchsverhalten von Privathaushalten hervorgerufen werden. Und wenn man sich überlegt, ob man das steuern will oder kann, muss man sich eines vergegenwärtigen: Die Menschen verbrauchen Strom nicht, weil sie Strom verbrauchen wollen, sondern weil sie ein stromverbrauchendes Gerät nutzen. Und typischerweise wollen sie das Gerät genau dann nutzen, wenn sie es einschalten. Die Optimierung des Stromverbrauchs kann immer nur eine Optimierung nachgelagerter Priorität sein (jeder will seinen Tee in der Halbzeitpause kochen). Schränkt eine Optimierung des Stromverbrauchs das Leben nicht ein, ist sie willkommen. Verlangt sie grundlegende Verhaltensänderungen oder droht gar das Verpassen von Spielzeit, wird es schnell schwierig. Ein beliebtes und wahrscheinlich praktikables Beispiel ist die Waschmaschine. Ein Waschgang lässt sich gut verlagern (und stört auch nicht beim Fußballschauen). Aber auch das kann in einem Mehrparteienhaus zu Diskussionen führen, wenn man die Waschmaschine in der Nacht laufen lassen möchte.

Insofern halte ich die StromGedacht-App der TransnetBW GmbH hier für einen guten Ansatz! Natürlich würde die App – bei extremem Erfolg – auch die Gleichzeitigkeit des Stromverbrauchs erhöhen. Aber seien wir realistisch: Von einer Durchdringung, wie Kim Milton Nielsen sie mit seiner Pfeife am Abend des 30. Juni 1998 in Großbritannien hatte, ist die App noch sehr (wirklich sehr) weit entfernt. Und selbst da, wo Stromverbraucherinnen und -verbraucher auf die App schauen und sich nach ihr ausrichten, tun sie dies nicht unter dem Druck, genau in den 15 Minuten Halbzeitpause (bzw. der noch kürzeren Pause vor der Verlängerung) alles geschafft zu bekommen. Das heißt, auch bei der in der App-angeregten Verlagerung von Stromverbrauch ergibt sich eine Durchmischung.

Ob es so glücklich ist, wenn der Übertragungsnetzbetreiber zu Zuständen des Stromsystems mit der Alarmfarbe „rot“ kommuniziert, sei dahingestellt. Aber auf jeden Fall hat die TransnetBW GmbH eines geschafft: Über den Stromverbrauch und seine Möglichkeiten, ihn zu verlagern, wird diskutiert. Und der Frage, wann und wo wir ohne Nutzeneinbußen unseren Stromverbrauch verlagern können, müssen wir uns für eine erfolgreiche und versorgungssichere Umsetzung der Energiewende wohl stellen. Auch hier bin ich auf die Erfahrung mit der App gespannt – da keine Vergütung gezahlt wird, geht es eben tatsächlich nur um Verlagerungen, die keine echte Nutzeneinbuße mit sich bringen.

Und da gibt es Möglichkeiten! Da ich ja auch damals schon in der Energiewirtschaft gearbeitet habe und mir die Lastproblematik zu den Spielpausen voll bewusst war (…), habe ich meine WG zu lastschonendem Verhalten angehalten: Wir haben Bier getrunken. Manche Lastvermeidung kann auch mit einer Nutzenerhöhung einhergehen.

They think it’s all over – it is now.

PS.: Die StromGedacht-App findet sich hier.

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