Ein Graph und seine Geschichte: Fukushima aus Sicht des Marktes

17.04.2023 | Auch hier zu finden im Web

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Das große Seebeben am 11. März 2011 vor der japanischen Küste ist in Deutschland vor allem durch die Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Fukushima bekannt. So bekannt, dass die meisten wohl den tatsächlichen „Namen“ der Naturkatastrophe, Tōhoku-Erdbeben, gar nicht kennen. Der dem Seebeben nachfolgende Tsunami hat fast 20.000 Menschenleben gefordert und eben auch das Unglück von Fukushima ausgelöst, das in der deutschen Berichterstattung sehr dominant wurde.

Vor dem Hintergrund des menschlichen Leids, das dieses Unglück auslöste, fällt es schwer, die politischen Folgen in Deutschland als „dramatisch“ zu beschreiben. Letztlich ist es aber wohl passend, dieses Adjektiv zu verwenden. Nicht nur wurde die gerade erst erfolgte Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke handstreichartig zurückgedreht, auch die Wahl des ersten grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl am 27. März 2011 kann durchaus als Folge der damaligen Ereignisse gesehen werden. Auch die Verwerfungen im Stromgroßhandelsmarkt waren heftig und lassen sich an dem abgebildeten Graph gut ablesen. 

Was sehen wir auf dem Bild?

Der Graph ist ein „Standardhändlerbildschirm“ für den Stromgroßhandelsmarkt. Abgebildet ist der Strompreis für eine Jahresbandlieferung im Jahr 2012 in Deutschland (siehe Punkt 1 – „German Base Elec“ ist wohl selbsterklärend und „Year 1“ steht einfach nur für das erste ganze Folgejahr – 2011 war das also das Jahr 2012). Wir sehen die Preisnotierungen für dieses Produkt an den Tagen 10. bis 16. März 2011 (Punkt 2). Der 12. und 13. März waren ein Samstag bzw. Sonntag. Da am Wochenende nicht gehandelt wird, fehlen diese Tage auf der X-Achse. Die Preise sind in Euro/MWh und variierten über den angezeigten Zeitraum zwischen rund 53 Euro/MWh und 60 Euro/MWh (Punkt 3). Deutlich erkennt man die unterschiedlichen Preisbewegungen vor und nach dem Wochenende. Vor dem Wochenende, am 10. und 11. März, war die Welt noch in Ordnung – die Preise dümpelten um die 53 Euro/MWh vor sich hin, nur sehr sporadisch haben neue Geschäfte den Preis leicht bewegt. Ab dem Montag ist die Unruhe im Markt förmlich sichtbar. Immer wieder mit Ausschlägen nach oben und unten ziehen die Preise deutlich an und kratzen an den 60 Euro/MWh. Soweit – so einfach der Blick auf die Marktentwicklungen vor und nach dem Fukushima- bzw. Tōhoku -Wochenende. Tatsächlich gibt der Graph aber einige spannende Hinweise auf ältere und aktuelle Debatten.

Die Kraftwerkskrise war nicht Fukushima

Die konventionellen deutschen Kraftwerke befanden sich in den 2010er Jahren in einer existenziellen wirtschaftlichen Krise. Zahlreiche Kraftwerke wurden aus wirtschaftlichen Gründen tatsächlich auch stillgelegt. Die großen Energiekonzerne E.ON, RWE und EnBW fuhren damals aufgrund der sich verschlechternden Marktbedingungen massive Verluste ein, in Summe im zweistelligen Milliarden-Euro-Umfang. Neu gebaute Gaskraftwerke waren bei Fertigstellung schon wirtschaftliche Totalschäden. Gerne wurde in Diskussionen diese Entwicklung „Fukushima“ zugeschrieben. Das Tōhoku-Unglück konnte niemand auf dem Schirm haben und insofern waren die wirtschaftlichen Probleme der Branche nicht selbstverschuldet, sondern Ergebnis eines großen Zufallsereignisses und damit im weitesten Sinne also einfach Pech.

Doch wie der Graph zeigt, lagen die Großhandelsmarktpreise Anfang 2011 bei leicht über 50 Euro/MWh und hatten sich damit gegenüber dem Höchststand vom Sommer 2008 mit fast 100 Euro/MWh schon gut halbiert. Tatsächlich fielen die Strompreise mehr oder weniger kontinuierlich vom Sommer 2008 bis Anfang 2016, dann auf einen Tiefststand von fast 20 Euro/MWh. Dieser Preisverfall begründete sich zum einen in den Preisrückgängen für Kohle, Gas und CO2, die in Folge den Strompreis mit runterzogen. Zum anderen aber in dem massiven Zubau von erneuerbaren Energien – 2010 lag die Jahreserzeugung aus dem EEG noch bei 82 TWh, 2020 dann bei 240 TWh. Da weiteste Teile der EEG-Erzeugung Grenzkosten von null haben, drängten sie die konventionelle Erzeugung einfach aus dem Markt bzw. sorgten – über den Merit-Order-Effekt – für günstigere Marktpreise.

Natürlich war die ad-hoc Stilllegung der älteren acht Kernkraftwerke für die betroffenen Unternehmen ein wirtschaftliches (wie operatives) Problem. An der Krise der konventionellen Kraftwerke aufgrund des Preisverfalls hatte Fukushima aber keinen Anteil. Im Gegenteil: Wie aus dem Graph ersichtlich, hatte das Fukushima-Unglück einen preissteigernden Effekt. In der Tat kann man in langfristigen Strompreisgrafiken das Fukushima-Unglück an diesem Preissprung zeitlich gut zuordnen.

Der Markt funktioniert

Immer wieder wurde und wird die Funktionsfähigkeit des Strommarktes diskutiert. Insbesondere mit Blick auf die Marktmacht der damaligen großen Erzeugungsunternehmen E.ON und RWE wurde in den Jahren um 2010 immer wieder in Frage gestellt, ob der Strommarkt ein Wettbewerbsmarkt ist. Eine notwendige Bedingung für einen funktionierenden Markt bzw. Wettbewerb ist die Reaktion auf exogene Schocks. Diese Bedingung hat der Strommarkt im März 2011 auf gut sichtbare Weise erfüllt. Die in der Grafik hinterlegten Punkte 4 und 5 markieren die damaligen Pressekonferenzen der Bundesregierung. Am Nachmittag des 14. März (Punkt 4) 2011 wurde das Aussetzen und die Überprüfung der Laufzeitverlängerung für drei Monate verkündet. Das hätte die Strompreise des Jahres 2012 kaum berührt. Aber viele im Markt ahnten schon, dass es dabei nicht bleiben würde – die damit auch kurzfristig drohende bzw. denkbare Verknappung auf der Angebotsseite führte zu einem sprunghaften Preisanstieg um ca. 1 Euro/MWh.

Am Vormittag des 15. März 2011 legte die Bundesregierung nach und verkündete, dass die acht älteren Kernkraftwerke für diese drei Monate abgeschaltet werden würden. Viele (eigentlich wohl alle) Marktteilnehmer erwarteten, dass diese Kraftwerke auch nach den drei Monaten nicht mehr zurückkommen würden – insofern wieder ein sprunghafter Anstieg der Strompreise für 2012, diesmal um weitere 2 Euro/MWh.

Die schnelle Reaktionsgeschwindigkeit auf externe Schocks ist ein Zeichen für funktionierende Märkte. Tatsächlich näherte sich der Strommarkt hier schon fast der theoretischen Annahme der Neoklassik der Volkswirtschaftslehre von unendlich schneller Reaktionsgeschwindigkeit an. Wenn Sie vergessen haben, wann die Zeitpunkte der Pressekonferenzen waren – der Graph sagt es Ihnen: 16:00 Uhr bzw. 11:30 Uhr. Diesen Test für einen funktionierenden Wettbewerb hat der Strommarkt in der Fukushima-Woche wohl bestanden.

Es gibt kein Energy-only

Nicht ganz so offen aus dem Graph erkennbar, aber doch auch eine Markterfahrung nach Fukushima, war die Erkenntnis, dass der Begriff „Energy-only-Markt“ einfach Quatsch ist. Im Strommarkt wird nicht „nur die Energie“ gehandelt. Die Preise, die auf der Y-Achse aufgeführt sind, sind keine Energy-only-Preise. Auch der EnBW sind von der Bundesregierung am 15. März 2011 zwei große Erzeugungsblöcke aus dem Portfolio genommen worden. Wir hätten natürlich gerne unsere Handelspartner angerufen – „Hört mal, Ihr lest ja selber die Zeitung und guckt Fernsehen – Ihr wisst ja, was los ist. Wir würden dann mal gucken, wie wir unsere Lieferung an Euch organisieren. Ist ja Energy-only. Wir melden uns.“ Das haben wir nicht gemacht, weil der Markt eben nicht Energy-only ist.

Im Strommarkt werden garantierte Lieferverträge gehandelt, wenn man also in Anglizismen bleiben möchte: „Energy-guaranteed“. In dem Maße, wie uns beim Handel dämmerte, dass wir unsere älteren zwei Kernkraftwerksblöcke politisch verlieren würden, begannen wir Ersatzbeschaffungen vorzunehmen. Wir kauften Strom vom Markt. Mit den sich verschiebenden Preisrelationen kamen auch unsere älteren konventionellen Kraftwerke, die wir bisher noch nicht im Einsatz verplant hatten, ins Geld, so dass wir teilweise auch Kohle und CO2-Zertifikate kauften, um den Strom in eigenen Kraftwerken zu erzeugen. Das mussten alle Marktteilnehmer so machen, denen plötzlich die acht älteren Kernkraftwerke aus dem Kraftwerkspark gestrichen wurden, und diese Nachfrage war ja auch ein Treiber hinter dem Preisanstieg (und der Umstand, dass alle Energiepreise – Kohle, Öl, Gas – stiegen, denn die damals zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ersetzte buchstäblich von einem Tag auf den anderen ihre gesamte Kernenergieerzeugung durch konventionelle Energieträger).

Wer im Strommarkt verkaufen will, braucht (wenn er nicht als reiner Händler mit entsprechenden Gegengeschäften am Markt agieren will) folgende Dinge, um risikobewusst einen „Base Frontjahr“-Deal einzugehen – also um Strom-Grundlast für 8.760 Stunden des nächsten Jahres zu verkaufen: Ein Kraftwerk, den entsprechenden Primärenergieträger, ggf. auch CO2-Zertifikate und – ganz wichtig – eine Idee, was er macht, wenn ihm sein Kraftwerk ausfällt. Wer aus den Marktereignissen rund um Fukushima 2011 nicht gelernt hat, dass am Markt garantierte Lieferungen gehandelt werden, der bekam dann 2022 in den Marktverwerfungen nach dem Überfall auf die Ukraine sehr schmerzhaft eine wirtschaftlich noch einmal sehr viel härtere Lektion.

Der März 2011

Es waren intensive Tage, sicher nicht nur in den Handelsabteilungen der Energieunternehmen. Ich erinnere mich noch an die Aufsichtsratssitzung der EnBW Kraftwerke AG, einem damaligen Teilkonzern innerhalb der EnBW, dem auch die Kernkraftwerke der EnBW zugeordnet waren, in der über die Weisung der Landesregierung zum Abfahren der Kernkraftwerke Philippsburg 1 (KKP1) und Neckarwestheim I (GKN I) berichtet wurde. Nach der Sitzung fuhr ich nach Karlsruhe in die Einsatzzentrale unserer Kraftwerksflotte und sah zu, wie dann am Abend die Zahlen auf der Anzeigetafel hinter KKP 1 und GKN I langsam von 926 MW bzw. 840 MW begannen runterzuzählen.

Aus dem Gespräch mit den beiden Kollegen, die den Kraftwerkseinsatz koordinierten, bekam ich ein leichtes Gefühl (mehr sicher nicht), wie sich die Kolleginnen und Kollegen auf den Anlagen wohl fühlen mussten, für die sich binnen weniger Tage die Perspektiven für ihren Arbeitsplatz und ihr Arbeitsleben komplett gedreht hatte. Einen letzten Punkt möchte ich daher mit Blick auf die Fukushima-Woche im deutschen Strommarkt machen: Es handelt sich hier durchweg um komplexe technische Anlagen, die von Fachkräften betrieben werden. Diese Anlagen und auch die Menschen sind nicht beliebig disponierbar. Ausstiegspläne werden schnell und schon vor dem tatsächlichen Ausstiegszeitpunkt technisch unumkehrbar. Die Energiewende gelingt nicht mit einem Kohleausstieg, sondern nur mit einem Erneuerbaren-Einstieg. Wir sollten beim Ausstieg mit dem Einstieg fertig sein. Mehr Wind und mehr PV ist also das Gebot der Stunde – aber das ist jetzt wirklich nicht mehr auf dem Graph zu erkennen.

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