Briefmarken für die Digitalisierung – vom langen Weg zum Ende der Ablesekarte

22.07.2021 | Auch hier zu finden im Web

Digitalisierung
CSR
Operations
Netze BW

Wir alle setzen uns mit der Digitalisierung auseinander und überlegen, wie wir diese in unseren Unternehmen vorantreiben können. In Bezug auf die Digitalisierung der Kundenschnittstelle haben Netzbetreiber einen Nachteil zu den Internetunternehmen wie Amazon (weswegen ich es auch immer ganz spannend finde, wenn ein Netzbetreiber „das Amazon der Netzbetreiber“ werden will): Die Kundschaft von Amazon ist dahingehend „vorsortiert“, dass alle Kundinnen und Kunden den Weg ins Internet gefunden haben und – und da geht es dann doch etwas mehr mit der Gesamtbevölkerung auseinander – sich emotional damit abgefunden haben, private Daten wie Name, Adresse und Kreditkartendetails in die Maschine zu hacken. Auch wenn die Zahl der Datenverweigerer und insbesondere der „Offliner“ kleiner wird, sie sind immer noch respektabler Anteil und auf jeden Fall immer Kundin oder Kunde des jeweiligen Netzbetreibers.

Wenn wir als Netzbetreiber also unsere Kundenschnittstelle digitaler gestalten wollen, müssen wir das umfassend denken und anlegen. Insofern war es für mich ein großer Erfolg unserer Arbeiten über die letzten fünf Jahre, dass wir zum 8. Juli 2021 unsere „Ablesekarte“ einstellen konnten. Die Herausforderung lag nicht nur in der Prozessdigitalisierung, sondern insbesondere auch darin, unsere Kundinnen und Kunden auf diesem Weg mitzunehmen. Soweit ich das überschaue, sind wir der erste deutsche Verteilnetzbetreiber, der sich diesen Schritt getraut hat. Im Weiteren erzähle ich die Geschichte dieses Projekts.

Kurz für die, die sich nicht täglich, sondern eben nur einmal im Jahr – wenn nämlich der Ableseturnus ihres Stromzählers zuhause fällig ist – mit der Thematik beschäftigen: Worum geht es genau und was ist hier das Besondere? Für die Ermittlung des Stromverbrauchs wird vom Netzbetreiber einmal im Jahr der Stromverbrauch erfasst. Dazu wird der Zählerstand am Stromzähler abgelesen. Bei der Netze BW passiert(e) dieses wie folgt: Die Kundin oder der Kunde bekam einen Brief mit der „frohen Botschaft“, dass es wieder soweit sei sowie der Bitte, den Zähler abzulesen, den Zählerstand auf die mitgesandte Postkarte zu schreiben und diese an uns zurückzusenden („Gebühr bezahlt Empfänger“). Diese Karte gibt es bei uns seit dem 8. Juli 2021 nicht mehr – der Brief kommt immer noch (… noch …), man kann aber nur noch „digital“ zurückmelden.

Ein Geständnis vorab: Wenn ich die Geschichte hier in Schritt 1, Schritt 2, … erzähle, dann sieht das nach einer groß angelegten und stringent umgesetzten Strategie aus. Tatsächlich ist da ein gehöriger Schuss „post-event-rationalisation“ dabei. Das Ziel war klar und wir haben einen Weg zu diesem Ziel, der Abschaffung der Ablesekarte, gefunden. Tatsächlich war auch viel herumstochern und ausprobieren dabei. Aber mit Schritt 1, Schritt 2, … erzählt es sich einfach netter.

Und doch noch eine letzte Vorbemerkung: Das ganze Projekt liegt mir sehr am Herzen, was sich nicht zuletzt auch in dem etwas länger geratenen Text zeigt … aber nun los.

Schritt 1: Digitale Rückmeldekanäle ausbauen

In den Jahren 2016, 2017 bekam ich bestimmt einmal im Monat das dominant auffordernde Angebot, doch endlich mal für die Netze BW eine „Ablese-App“ einzuführen. Der jeweilige Berater, der mir das Angebot machte, schickte auch meistens ein paar coole Folien und manchmal sogar einen Business Case mit. Mich hat das nie überzeugt. Ablese-Apps mögen ein nettes Feature in einer Stadtwerke-App sein, in der ich auch den Besucherstand im örtlichen Schwimmbad und den aktuellen Müllabfuhrkalender abrufen kann. Aber für einen reinen Netzbetreiber wie die Netze BW? Eine App, die man nur einmal im Jahr braucht? Die einem dann, wenn man vor dem Stromzähler steht, erst einmal sagt, dass sie sich aktualisieren muss? Und das Mobiltelefon einem dann mitteilt, dass das jetzt nicht geht, weil vor dem Stromzähler im Keller kein Empfang ist?

Die Werbung diverser Großbanken, dass man seine Rechnung auch ganz einfach dadurch bezahlen könnte, dass man der Bank ein Foto der Rechnung schickt, hat mich dann auf das Ablesefoto gebracht. Einfach den Stromzähler fotografieren und uns das Foto mailen – wofür braucht man da eine App? Wir haben dann einen ersten Test durchgeführt und bei 100.000 Kundinnen und Kunden im Rahmen der Turnusablesung die Möglichkeit aufgezeigt, uns alternativ zur Karte (oder Internetplattform oder E-Mail oder – ja, auch! – Fax) auch ein Foto zu schicken. Operativ stand während des Tests ja lediglich ein „Handprozess“ dahinter, somit hatten wir die Möglichkeit nur im Fließtext des Anschreibens erwähnt (den wohl nur die wenigsten Kundinnen und Kunden ernsthaft lesen). Trotzdem bekamen wir rund 500 Fotos.

Wir haben uns daher Ende 2017 entschieden, den Rückmeldekanal „Foto“ dauerhaft einzurichten und das bedeutete, die Auslesung der Fotos zu automatisieren bzw. digitalisieren. Ich hatte ja noch die Liste der Berater, die mir die Ablese-Apps angeboten hatten. Überraschenderweise war keiner in der Lage, die Fotos verlässlich auszulesen. Es klappte nur in ca. 60 % der Fälle – tatsächlich macht so eine Ablese-App auch tausende von Fotos und die App animiert einen, das Handy so lange etwas zu bewegen, bis ein auslesbares Foto dabei ist. Mich hat das fasziniert … wir können Osama Bin Laden am Flughafen automatisch erkennen, aber so einen Zählerstand kriegt man nicht ausgelesen … .

Als nächstes haben wir „Crowd Working“ probiert. Ein Zählerfoto wurde (Datenschutz) in mehrere Zahlenschnipsel zerlegt, die dann irgendwo in der Welt von Leuten gegen Cent-Beträge ausgelesen wurden. Auch hier: Wir haben ein Foto dreimal in den Prozess gegeben und bekamen in einem Drittel der Fälle tatsächlich drei unterschiedliche Werte zurück … für einen Massenprozess ungeeignet. Gerade als die Betriebsräte mit mir in eine verschärfte Diskussion gehen wollten, ob denn Crowd Working ein dauerhafter Ansatz im Unternehmen sei, haben wir das Experiment Crowd Working abgebrochen.

Was tun? Wir haben es dann mit einer Behinderten-Werkstatt gelöst. Die Fotos werden seit 2018 in den Hanauerland Werkstätten der Diakonie Kork ausgelesen. Mich hat überrascht, wie positiv die Arbeit dort aufgenommen wurde. Aber eigentlich hätte einem das klar sein können: Ein echter Büroarbeitsplatz (ist dort nicht die Regel) und ein echter Schritt in einem realen Geschäftsprozess – für das mit der Arbeit einhergehende Selbstverständnis ganz wesentliche und in Behindertenwerkstätten nicht selbstverständliche Punkte. Und es funktioniert – aktuell laufen ca. 50.000 Fotos im Jahr über diese Schnittstelle. Einziges „Manko“: Unsere „Foto-Schnittstelle“ macht über Weihnachten und Neujahr zu … aber allfällige Kundenbeschwerden müssen wir dann eben aushalten (und es gab auch noch keine).

Schritt 2: Die Kunden auf digitale Wege bringen

Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine digitale Rückmeldequote von rund 30 %, d. h. ein Drittel unserer Kundinnen und Kunden gaben uns den Zählerstand nach der Aufforderung bereits auf einem digitalen Weg zurück, fast alle über das eingerichtete Internetportal. Das galt es nun zu steigern … aber wie? Die Natur des Stromgeschäfts ist es, dass die direkte Kundenbeziehung beim Stromlieferanten hängt und nicht beim Netzbetreiber. Hätten wir also eine „Prämie“ an die Kunden, die digital zurückmelden, ausloben wollen, hätten wir nicht die Kontoverbindungsdaten etc. gehabt. Mal abgesehen davon, dass die Abwicklungskosten sicher höher gewesen wären als alles, was man auf Basis der Kostensituation als Prämie in vernünftigem Umfang hätte dimensionieren können. Und den Lieferanten, also denjenigen, die unmittelbar bei uns die Netznutzung für die Haushaltskunden einkaufen, wollten wir nun keine Prämie zahlen, zumal das auch nur in regulatorische Unwägbarkeiten geführt hätte (die Preise für Netznutzung sind schließlich reguliert).

Wir sind am Ende auf die „Portospende“ gekommen. Wir haben den Kunden zugesagt, dass bei einer digitalen Rückmeldung das eingesparte Porto für die Rückmeldekarte an einen guten Zweck in ihrer Gemeinde gespendet wird. Dieser Ansatz hat gut verfangen. Wir sind in rund 600 Gemeinden Netzbetreiber und haben so jedes Jahr mehr als 600 Spenden getätigt (wir haben immer die Gemeinde gefragt, wo die Spende hingehen soll und manche Gemeinden haben das Spendenvolumen aufgeteilt). Dies hat hunderte von Presseartikeln nach sich gezogen – die aufgrund einer gelungenen kommunikativen „Catch-Line“, nämlich „die Spende aus der Portokasse“, gut verfangen haben. Im letzten Jahr der Aktion haben wir über 800.000 Euro an Spenden getätigt – eine stolze Summe, die uns aber doch leichtfallen konnte, denn ihnen standen ja in gleicher Höhe gesparte Portokosten gegenüber. Und natürlich hat uns die Reduktion der Kartenrückmeldungen darüber hinaus auch Einsparungen in den Prozesskosten ermöglicht.

Unterm Strich konnten wir die Quote für die digitale Rückmeldung auf über 70 % steigern. Rechnet man die Kunden heraus, die sich einer Kommunikation mit dem Netzbetreiber pauschal und total verweigern, die also auch schon analog keine Rückmeldung gegeben hatten, liegt die Quote noch höher. Ich würde sagen, wir sind damit am Maximum dessen, was mit einer Kundenbasis der Allgemeinbevölkerung zu erreichen ist. Um die Zählerkarte tatsächlich einzustellen, war damit noch ein weiterer Schritt notwendig – ein „digitaler“, aber internetloser Rückmeldekanal.

Schritt 3: Einführung eines Telefonie-Bots

Direkt am Anfang der Portoaktion hatten wir schon einen weiteren Markttest durchgeführt und bei den Anschreiben von ca. 30.000 Kundinnen und Kunden die Ablesekarte einfach einmal weggelassen. Die Reaktion zeigte uns, dass das funktionieren kann, allerdings wichen sehr viele Kunden auf die Rückmeldung per Telefon über das Call Center aus – die teuerste Rückmeldevariante.

Tatsächlich muss der Kunde uns ja nur zwei Zahlenreihen melden, zum einen seine Vorgangsnummer und eben den Zählerstand. Zur Meldung von Zahlen sind die diversen am Markt verfügbaren Telefonie-Bots aber mittlerweile recht ausgefeilt, und so haben auch wir für die Rückmeldung des Zählerstands mit einem Dienstleister einen Sprachcomputer entwickelt.

Das System haben wir dann umfangreich getestet – ich habe auch immer wieder den Sprachcomputer angerufen und versucht, durch Genuschel und imaginäre Dialekte oder sinnfreies Tastendrücken und Sprechen das System zum Absturz zu bringen – ohne Erfolg. Schließlich reden wir hier von Massenprozessen, und es gibt in der operativen Abwicklung wenig Schlimmeres, als einen abgestürzten Massenprozess wiederzubeleben (die Zahl der nicht bearbeiteten und auf Halde laufenden Fälle steigt rasend schnell an – bei uns im Bereich der Ablesung wären das rund 10.000 am Tag – und das muss dann im schlimmsten Fall alles händisch wieder ins Lot gebracht werden). Deshalb führten wir Anfang dieses Jahres mit dem fertigen System noch einmal einen scharfen Test mit 100.000 Kunden durch. Und nachdem dieser erfolgreich war, war es dann soweit: Seit dem 8. Juli 2021 verschicken wir keine Ablesekarten mehr.

Schritt 4: Wie geht es weiter

Nachdem wir es geschafft haben, in der Rückmeldekommunikation zum Zählerstand digital zu werden, nehmen wir uns jetzt die Ausgangskommunikation vor. Das Alternativmedium zum Brief ist hier klar: E-Mail. Und so werden wir die Portospendenaktion jetzt fortsetzen (für die Ablesekarte ist sie ja leider mit dem Ende der Ablesekarte ausgelaufen). Für jeden Brief, den wir aufgrund der Zustimmung des Kunden, mit ihm über E-Mail zu kommunizieren, nicht mehr versenden müssen, spenden wir die direkt damit eingesparten Kosten (natürlich das Porto, aber jetzt auch den Druck und das Kuvertieren) an einen guten Zweck in der Gemeinde.

Absehbar glaube ich nicht, dass wir von der Briefkommunikation ganz wegkommen können, da ein Äquivalent zum Telefonie-Bot für die Ausgangskommunikation nicht zur Verfügung steht (kein Kunde hat den Zählerstand neben seinem Telefon liegen für den Fall, dass der Netze BW-Telefonie-Bot anruft). Aber ich bin mir sicher, wir werden auch hier die Zahlen deutlich nach unten bekommen.

Und das Fernziel der vollständigen Digitalisierung steht auch hier: Mit dem Gesetz zur Digitalisierung werden alle Kundinnen und Kunden mit einem Jahresverbrauch mit mehr als 6.000 kWh/a auf Fernauslesung über ein intelligentes Messsystem umgestellt. Das heißt: Unsere bisherigen Bemühungen sind nachhaltig richtig, denn alle Kunden mit weniger als 6.000 kWh Jahresverbrauch sind weiter in dem Prozess, in dem wir uns die Karte gespart haben. Und wenn der Anteil der „analogen Kunden“ in diesem Segment eventuell recht klein sein wird, kann sich die Umstellung ggf. auch einseitig für die Netze BW rechnen, schließlich können wir uns dann eine Druckstraße und die damit einhergehende Logistik sparen.

Mein Fazit zu den bisherigen Schritten

Wenn man „alle“ als Kundinnen und Kunden hat, muss man an alle denken. Das tun wir und digitalisieren daher unsere Kundenschnittstelle mit Augenmaß und in angemessenem Tempo, immer darauf bedacht, auch alle mitzunehmen und für alle annehmbare Wege zur Verfügung zu stellen. Digitalisierung klappt besser und findet größere Akzeptanz, wenn alle bzw. viele von ihr profitieren – in unserem Fall bisher gemeinnützige Vereine in den Gemeinden, die Behindertenwerkstätten in Kork und – will ich nicht verhehlen – auch wir bei der Netze BW GmbH. Und natürlich gehen damit positive Umwelteffekte einher – wir sparen uns eine ganze Menge Papier, Energie und CO2 in der Abwicklung und im Transport. Ich gehöre eigentlich auch zum Kreis derer, die bedauern, dass immer mehr Kommunikation über E-Mail und nicht mehr per Brief stattfindet. Gleichzeitig würde aber auch ich sagen, dass der Ableseaufforderungsbrief und die Ablesekarte jetzt nicht die Kulturgüter sind, die wir unbedingt erhalten müssen ... und so werden wir bei der Netze BW GmbH digitaler – Brief um Brief.

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