Beobachtungen zur Versorgungssicherheit der deutschen Stromversorgung

03.02.2022 | Auch hier zu finden im Web

Energiewirtschaft
EEG
Versorgungssicherheit
Energiewende

Erste Beobachtung: Mehr Selbstreflexion!

In einer ersten einleitenden Beobachtung möchte ich noch nicht direkt auf die Versorgungssicherheit eingehen, sondern erst einmal die aktuelle Situation reflektieren, in der wir uns zunehmend Gedanken um die Versorgungssicherheit machen. Wir neigen dazu, die aktuellen Entwicklungen und Umwälzungen als erstmalig und als besonders dramatisch und einzigartig wahrzunehmen. Eine Situation, auf die wir mit ganz neuen Mitteln zu reagieren haben – zum Beispiel mit Kapazitätsmärkten, auf die ich noch eingehen werde.

Die Folgen von Fukushima waren eine sehr deutliche Zäsur für die deutsche Energiewirtschaft und natürlich impliziert das Ausbauziel von 100 % Erneuerbaren eine ganz neue und ganz andere Stromwirtschaft. Aber es sind nicht die ersten dramatischen Strukturbrüche in unserer Branche.

Ende 1973 beschlossen die wesentlichen arabischen Erdöl exportierenden Länder, die westlichen Industriestaaten wegen ihrer Unterstützung Israels im Jom Kippur Krieg unter Druck zu setzen und drosselten die Erdölförderung. Der Ölpreis stieg von drei US-Dollar pro Barrel auf zwölf US-Dollar. Die Folgen in den Industriestaaten und ihren Volkswirtschaften waren dramatisch – ich will hier keine Wirtschaftsgeschichte erzählen, daher vielleicht nur ein Beispiel: In Deutschland wurde eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h erlassen. Wer das in das Verhältnis der Tempo-130-Debatten setzt, bekommt ein Gefühl dafür, welchen Handlungsdruck man damals empfunden hat.

In der Stromwirtschaft wurde eine ganze Generation von Kraftwerken von einem Moment auf den anderen entwertet. Die begonnenen Ölkraftwerke, rund sechs Gigawatt, wurden noch zu Ende gebaut, waren aber schon bei Inbetriebnahme meilenweit von einer Wirtschaftlichkeit entfernt – die Gaskraftwerke der 2010er Jahre, die schon bei Inbetriebnahme Totalabschreibungen waren, waren also nicht die ersten frisch gebauten Industrieruinen der Stromwirtschaft.

Aus heutiger Sicht kann man natürlich sagen, dass damals den Entscheidern in der Energiewirtschaft die Marktmacht der OPEC doch klar gewesen sein muss. Die OPEC wurde 1960 gegründet, war keine Geheimorganisation, und kommuniziert ihre Ziele, die Stabilisierung des Ölmarktes, recht offen. Wie konnte man sich mit seinen Investitionen diesem Kartell so ausliefern?

Ein Sprichwort sagt: Durch ein gebohrtes Loch ist gut gucken. Aber versuchen wir mal, losgelöst von der eigenen Betroffenheit, auf die heutige Situation zu schauen: Im Kern treibt uns heute in der Stromwirtschaft neben dem Kohleausstieg der Kernenergieausstieg und Ausbau der erneuerbaren Energien – insbesondere der Zubau von Photovoltaik und Wind um. Zumindest mal mit Blick auf Kernenergie und EEG-Zubau: Wann wurden die Gesetze eigentlich gemacht? Das EEG existiert (das vorhergegangene Stromeinspeisegesetz mal vernachlässigend) seit 1998 – es ist diverse Male angepasst worden, aber sein Kern – die Fixpreisvergütung für neu gebaute und im Markt nicht wirtschaftliche erneuerbare Stromerzeugung – war von 1998 bis zur Einführung der Ausschreibemechanismen unverändert. Der Kernenergieausstieg hatte die Rolle vor- und rückwärts kurz vor und nach Fukushima, ist aber in seiner heutigen Fassung in etwa der im Jahr 2000 vereinbarte Ausstiegskompromiss. Und der Druck zur Klimawende – die Berücksichtigung von CO2 in der Stromerzeugung – ist auch ein langanhaltender Trend. Der CO2 Handel wurde 2003 von der EU beschlossen. Wir hatten also gute 20 Jahre stabile Rahmenbedingungen.

Eine Wahrheit der Entwicklungen ist, dass die deutschen Stromversorger die Entwicklung lange nicht ernst genommen haben und die Lernkurveneffekte bei Photovoltaik und Winderzeugung dramatisch unterschätzt haben. Das ist unser Versagen als Branche. Und so wie man sich vielleicht in den 60er Jahren nicht vorstellen konnte, dass eine Gruppe von Staaten wie Saudi-Arabien, Venezuela und Libyen es tatsächlich wagen würde, in einen umfassenden Wirtschaftskonflikt mit der gesamten westlichen Welt zu gehen, so konnten wir Stromversorger uns nicht vorstellen, dass trotz der immer bekannten guten Förderung aus dem EEG uns mit Wind und PV eine Konkurrenz erwachsen würde. Der Growian, die größtenteils still gestandene Windtestanlage der deutschen Stromwirtschaft in den 1980er Jahren, lässt grüßen: Damals hatten wir doch bewiesen, dass Winderzeugung nicht funktioniert, nicht funktionieren kann.

Wir diskutieren aktuell in Deutschland über unsere Versorgungssicherheit. Die Diskussion schlägt in der Regel schnell in eine Forderung nach staatlichem Handeln und dann noch schneller in eine Forderung nach staatlichem Geld um. Ich glaube, es gehört in dieser Diskussion ganz am Anfang zur Ehrlichkeit dazu, dass wir als Stromversorger uns eingestehen, dass mit Blick auf die letzten 20 Jahre (und in der Stromversorgung hat man immer den langen Zeitraum im Blick) die Situation zumindest zu einem Teil auch selbstverursacht ist. Ich glaube auch, dass diese Selbstreflexion überlebenswichtig ist. Es geht um unsere Glaubwürdigkeit und um unsere Fähigkeit, zukünftig auf dem innovativen Auge nicht blind zu sein.

 

Zweite Beobachtung: Es gibt schon Kapazitätsanreize

Dieses schnelle Springen auf die Forderung nach staatlicher Unterstützung bringt mich zu einer zweiten Beobachtung, mit der ich mich den Kapazitätsmärkten nähere: In der Hoffnung auf die schnelle und einfache Lösung durch staatliches Geld wird völlig übersehen, dass wir im Markt bereits Kapazitätszahlungen implementiert haben. Das möchte ich kurz erläutern. Der Strompreis an der Börse für eine Bandlieferung in 2023 ist aktuell (Anfang Januar 2022) bei stolzen 140 Euro pro MWh. Wenn Händler sich Preise anschauen, fragen sie sich immer: Was brauche ich, um dieses Produkt darzustellen und in welchem Verhältnis stehen die damit einhergehenden Kosten zu dem Preis. Was benötige ich also, um an der Strombörse eine Strombandlieferung in 2023 anbieten zu können? Ich brauche ein Kraftwerk, nehmen wir mal an auf Kohlebasis. Dann brauche ich entsprechend Kohle und entsprechende CO2-Emissionszertifikate.

Wer hier Schluss macht, begeht einen möglicherweise verhängnisvollen Fehler: Der Vertrag an der Börse beinhaltet eine garantierte Lieferung. Diese Garantie ist ein zentraler Punkt des Börsenstroms. Ein Händler muss sich also fragen, was er macht, wenn sein Kraftwerk ausfällt. Wie gehe ich mit dem technischen und nicht zu vergessen auch dem politischen Ausfallrisiko um? Praxisbeispiel: Auch den aus unseren älteren beiden Kernkraftwerken verkauften Strom mussten wir trotz der plötzlichen Stilllegung nach Fukushima trotzdem liefern, da natürlich auch das garantierte Lieferungen waren.

Auch hier gehört zur Selbstreflexion, dass die meisten aller Börsenstrom-handelnden Marktteilnehmer beim Punkt des Ausfallrisikos die letzten Jahre relativ entspannt waren. Manche sahen das Risiko vielleicht auch gar nicht – schließlich gab es ja noch den Intraday-Markt. Ein Kraftwerksausfall war also kein Problem, da man immer die Möglichkeiten hatte, sich kurzfristig wieder einzudecken. Und der Intraday-Markt war liquide, weil wir eine (sehr komfortabel) ausreichende Stromversorgung hatten. Man fand immer ein Kraftwerk im Markt, das noch liefern konnte, um in der Ausfallsituation Strom nachzukaufen.

Mit dem begonnen Kohle- und fast fertigen Kernenergieausstieg hat sich dies geändert. Mit weniger verfügbaren Kraftwerken steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man nur noch zu hohen oder sehr hohen Preisen einen technischen Ausfall kompensieren kann. Das letzte Quartal 2021 hat dies plastisch vor Augen geführt – durchaus zur Überraschung einiger Marktteilnehmer. Wird das technische Ausfallrisiko aber auch zu einem wesentlichen wirtschaftlichen Risiko, wird man Wege suchen, sich dagegen zu versichern - Reserveverträge. In der Regel enthalten diese Verträge eine fixe Zahlung und das Recht, ggf. kurzfristig Strom zu beziehen - Kapazitätsverträge. Die Erkenntnis, dass der Börsenstrompreis der Preis für eine garantierte Lieferung ist und entsprechend auch eine Kapazitätskomponente enthält, führt zu drei Schlussfolgerungen:

Erstens: Warum sollte der Staat für etwas einen höheren Preis zahlen als den, der aktuell im Markt gehandelt wird? Ein Grund könnte Marktversagen sein, aber die Stromwirtschaft argumentiert seit Jahren, dass der Großhandelsmarkt funktioniert. Das wurde zwar immer wieder in Zweifel gezogen, aber eher in Hinblick auf oligopolistisch überhöhte Strompreise. Die Frage, warum der Staat mehr zahlen soll als den Marktwert, erst recht einen oligopolistisch überhöhten Preis, bleibt.

Zweitens: Es besteht ja immer die Angst vor dem Schweinezyklus: Nach den sehr niedrigen Strompreisen heute kommt es dann zu einer Phase sehr, sehr hoher Strompreise, bis neue Kraftwerke gebaut sind – die die Preise dann wieder kaputt machen. Das ist nicht zwangsläufig so. Im Markt treffen die Modellierungen, Risikoabschätzungen, Risikoneigungen von vielen hundert Teilnehmern aufeinander. Strukturelle Brüche werden so deutlich gedämpft.

Drittens: Allgemeine Lebenserfahrung sagt, dass es sehr spannend, wenn nicht gefährlich wird, wenn mit staatlichen Fördermechanismen etwas gezahlt wird, was auch am Markt gehandelt wird. Aus meiner Sicht sind die sich hier ergebenden Anreizwirkungen nicht mehr überschaubar – und die Versorgungssicherheit ist zu wichtig, um das Ergebnis im Praxistest herauszufinden.

 

Dritte Beobachtung: Wir kennen unsere Versorgungssicherheit nicht

Die Frage des Praxistests führt mich zu einer dritten Beobachtung: Streng genommen ist ja auch mein Vorschlag des Vertrauens auf bestehende funktionierende Märkte nur im Praxistest zu prüfen. Und für den Praxisabgleich kann man Folgendes beobachten: Wir wissen nicht, wo wir genau bei der Versorgungssicherheit stehen; wir wissen nicht, wie wir Versorgungssicherheit beobachten; wir wissen nicht, was genau wir bei Versorgungssicherheit eigentlich wollen – aber wir sind teilweise wild entschlossen, Geld in die Hand zu nehmen, um uns Versorgungssicherheit zu kaufen. Mit einer vergleichbaren Einstellung sind meine Frau und ich vor Jahren in ein Küchenstudio gegangen – das wurde teuer und der Innenarchitekt begrüßt uns immer noch als „beste Freunde“.

Ich möchte einmal drei einfache Fragen jeweils für die Jahre 2022 und 2027 stellen:

  1. Mit welcher Wahrscheinlichkeit schaffen wir die erwartete Höchstlast im Jahr?

  2. Mit welcher Wahrscheinlichkeit schaffen wir es in irgendeiner Stunde im Jahr nicht, die Last zu decken?

  3. Was ist der Erwartungswert für die Anzahl der Stunden, in denen wir es nicht schaffen, die Last zu decken?

Diese Fragen sind beantwortbar. Dazu ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, dass wir eine Nachfrage von 800 MW und nur ein Kohlekraftwerk von 900 MW haben. Rein statistisch liegt die Ausfallwahrscheinlichkeit eines Kohlekraftwerks bei 10 % - wir würden die Höchstlast also mit 90 % Wahrscheinlichkeit schaffen, hätten zu de-facto 100% mindestens eine Stunde im Jahr, in der wir die Nachfrage nicht decken könnten und würden in Summe 876 Stunden erwarten, in denen wir die Nachfrage nicht decken können. Eine unbefriedigende Situation, in der wir wahrscheinlich noch einmal dasselbe Kraftwerk bauen würden: Im Effekt würden wir die Spitzennachfrage zu 99 % schaffen, hätten immer noch mit de-facto 100 % wenigstens eine Ausfallstunde im Jahr und würden noch 88 Stunden im Jahr erwarten, in denen wir die Nachfrage nicht decken.

Natürlich wird die Situation deutlich komplexer, wenn ich die deutsche Stromversorgung mit schwankender Nachfrage und heterogenem Kraftwerkspark analysiere - und natürlich braucht man diverse Annahmen, auch mächtige Annahmen. Aber man kann sich der Frage der Versorgungssicherheit analytisch nähern. Wo wir stehen, was wir wollen und was wir für unser Geld bekommen – diese Fragen können grundsätzlich beantwortet werden. Im EnWG ist dem Bundeswirtschaftsministerium in §51 EnWG beim Monitoring der Versorgungssicherheit aufgegeben worden, mehr auf wahrscheinlichkeitsorientierte Ansätze abzustellen. Alle zwei Jahre hat das Bundeswirtschaftsministerium dazu zu berichten. Im englischen Strommarkt wurde die Wahrscheinlichkeit eines unzureichenden Kraftwerkparks täglich für jede halbe Stunde des Folgetags berechnet. Jetzt kann man sicher argumentieren, dass man bei einer solchen Datenfülle nur eine Scheingenauigkeit erzeugt, die dann doch nur ewig konstante Annahmen versteckt. Die Britten kamen aus ihrer Sorge um die Versorgungssicherheit in einem kaum mit dem Festland verbundenen Inselnetz. Bei dem, was wir in der Energiewende vorhaben und bei den Auswirkungen, die das Wetter mittlerweile auf die Stromerzeugung hat, kann man sich vielleicht doch mal fragen, ob man statt einer Analyse alle zwei Jahre nicht doch einmal alle zwei Wochen als Ziel setzen sollte.

 

Fazit: Aufgaben für die Zukunft

Diese drei Beobachtungen führen mich zu drei Aufgaben für die Zukunft:

Erstens zeigt die Reflexion der eigenen Situation, dass dies nicht die erste Umbruchzeit ist. Die Ölpreiskrisen führten zu einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, zu Kernenergie und Nordseeöl, zu Autos mit deutlich weniger Verbrauch und zu ersten umfassenden Bemühungen um Energieeffizienz. Das verbindende Element bei all diesen Entwicklungen ist Innovation - darin liegen auch jetzt die Lösungen und in Umrissen sind sie auch schon zu erkennen: Wenn Smart Grids ein Erfolg sind, haben wir kein Kapazitätsproblem mehr. Denn im Kern geht es bei Smart Grids um eine Flexibilisierung der Nachfrage und das Kapazitätsproblem entsteht vor allem durch die Akzeptanz einer unflexiblen Nachfrage.

Zweitens gibt der Umstand, dass es schon Marktanreize gibt, neues Vertrauen darin, dass der Markt durchaus in der Lage ist, den anstehenden Strukturbruch zu bewältigen. Dass diese Marktanreize häufig übersehen werden, sollte uns dahingehend ein Hinweis sein, dass wir zu gern und zu schnell über staatliche Lösungen nachdenken. Ich verstehe, dass einigen die aktuellen Marktpreise nicht gefallen – aber ich bin überzeugt, dass sie die aktuellen Knappheitsverhältnisse im Markt richtig abbilden und dass sie das auch zukünftig tun werden. Vertrauen in den Markt ist notwendig, denn Misstrauen in den Markt wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Der auf Misstrauen gegenüber dem Markt begründete Markteingriff wird den Markt schwächen.

Drittens sollten wir genauer analysieren, wo wir stehen und was wir wollen. Die tatsächliche Versorgungssicherheit ist zu wichtig, um allein auf Basis einer gefühlten Versorgungssicherheit zu arbeiten. Die Einführung wahrscheinlichkeitsorientierter Betrachtungen der Versorgungssicherheit im §51 EnWG war ein guter Anfang, aber eben auch nicht mehr als ein (guter) Anfang.

Innovativ, wettbewerbsorientiert, handwerklich solide: Dies ist die richtige Basis für eine nachhaltige Versorgungssicherheit. Das sind auch die Kernbestandteile für die strategische Aufstellung der EnBW: Energiewende. Sicher. Machen. Und wenn wir dereinst einmal in unserem Rentner-Dasein vor dem Kamin sitzen und unser Enkelkind auf unserem Schoss sitzt und fragt: „Opa, was hast Du eigentlich während der Energiewende gemacht?“, dann werden wir nicht peinlich berührt in’s Feuer gucken müssen und antworten „Aktenvermerke.“.

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Tragen Sie sich jetzt in meinen Newsletter ein, um benachrichtigt zu werden, wenn ein neuer Artikel erscheint.

Sie haben eine Frage oder ein spannendes Thema?

Kontaktieren Sie mich gerne per E-Mail.