Eine kleine Fingerübung zur Versorgungssicherheit oder: Wie lange reicht der Schnaps?

20.07.2018 | Auch hier zu finden im Web

Versorgungssicherheit

An verschiedenen Stellen (zum Beispiel in "Einige Gedanken zur Versorgungssicherheit der deutschen Stromversorgung", insbesondere Teil 3 - "Wir kennen unsere Versorgungssicherheit nicht") habe ich mich kritisch zur Betrachtung der Versorgungssicherheit über Leistungsbilanzen geäußert. Es ist mir ein echtes Anliegen, dass wir bei der Versorgungssicherheit auf wahrscheinlichkeitsorientierte Ansätze umstellen. Um die Effekte bzw. die unterschiedlichen Ergebnisse der beiden Betrachtungsweisen zu verdeutlichen, im Weiteren eine kleine Excel-Fingerübung.

In den Zahlen versuche ich, mich grob an denen des deutschen Strommarkts zu orientieren (und nur um das Beispiel einfach zu halten, lasse ich die Erneuerbaren hier komplett außen vor). Nehmen wir vereinfachend an, dass der deutsche Strommarkt eine konventionelle Erzeugungskapazität von 100 GW hat, wobei es sich um 100 Blöcke mit je einem GW Leistung handelt und je einer Ausfallwahrscheinlichkeit von 10%. Die Spitzenlast ist 80 GW.

Die Betrachtung über Leistungsbilanzen ist einfach und zeigt ein gutes Bild: Die 100 GW werden um die Ausfallwahrscheinlichkeiten korrigiert und mit der Nachfrage verglichen. Den 80 GW Spitzenlast stehen also (100-100x0,1 =) 90 GW verfügbare Kraftwerkskapazität gegenüber. Vereinfacht gesprochen: es ist zu erwarten, dass 90 GW laufen und mit 10 GW Reserve hat man dabei noch einen ordentlichen Schnaps Versorgungssicherheit obendrauf. Im ersten Moment ein gutes Gefühl.

Um die so gesehene Versorgungssicherheit von 10 GW zu beurteilen, muss man sich allerdings überlegen, ob der Schnaps auch wirklich so groß ist, wie erwartet. Aufgrund der einfachen Struktur des Beispiels kann die wahrscheinlichkeitsorientierte Betrachtung in ein Münzwurfbeispiel überführt werden: Wenn ich 100-mal eine Münze werfe (d.h. versuche, ein Kraftwerk laufen zu lassen), mit welcher Wahrscheinlichkeit habe ich mindestens 80 mal Kopf (d.h. das Kraftwerk fällt nicht aus). Bei einer fairen Münze geht man von einer Wahrscheinlichkeit von 50:50 aus, bei der Ausfallswahrscheinlichkeit eines Blockes hier dann eben von 90:10. Mathematisch lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass 80 Blöcke funktionieren, mit der Formel für eine Binominalverteilung fassen:

Auf unser Beispiel hier angewendet:

  • „n“ ist die Anzahl der Versuche, hier bei 100 Blöcken also n = 100.

  • „p“ ist die Erfolgswahrscheinlichkeit, hier also, da wir wollen, dass das Kraftwerk läuft, p = 0,9 (90 %).

  • „x“ ist die Anzahl der Erfolge, nach der wir fragen; also wie viele Kraftwerke sollen laufen um die Nachfrage erfüllen zu können (hier 80 GW bzw. x = 80).

  • „b“ ist dann eben die Wahrscheinlichkeit, dass bei n Versuchen mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit p

    genau

    x Kraftwerke laufen.

Zu beachten ist, dass b jetzt die Wahrscheinlichkeit angibt, dass es genau x Erfolge gegeben hat. Für die Versorgungssicherheit interessiert uns aber die Summe der Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse, die eine gegebene Nachfrage decken. Betrachten wir die Nachfrage von 80 GW, dann sind 81, 82, … , 100 Erfolge (im Sinne laufender Blöcke) auch Ereignisse, die die Nachfrage decken. Wir suchen also „B“:

Die Grafik zeigt den Verlauf von B über die 100 Kraftwerksblöcke. Excel bietet die Formel BINOM.VERT, mit der sich das alles sehr leicht (nach)bauen lässt.

Auf der X-Achse ist die Nachfrage abgebildet (von 50 GW bis 100 GW), auf der Y-Achse die Wahrscheinlichkeit, dass diese Nachfrage mit dem gegebenen Kraftwerkpark gedeckt werden kann. Die blaue Linie gibt also die Wahrscheinlichkeiten an, mit der eine Nachfrage von X GW gedeckt wird. Der Unterschied zwischen einer Betrachtung der Versorgungssicherheit über Leistungsbilanzen und über einen wahrscheinlichkeitsorientierten Ansatz wird offensichtlich:

Die Leistungsbilanz suggeriert, dass eine Nachfrage von 80 GW mit 10 GW Reserve souverän zu schaffen ist. Die wahrscheinlichkeitsorientierte Betrachtung zeigt, dass mit 99% Wahrscheinlichkeit eine Nachfrage von 81 GW gedeckt wird, also eine deutlich weniger entspannte Situation. Zudem nimmt die Versorgungssicherheit rapide ab, eine Nachfrage von 85 GW ist schon nur noch mit 93% sicher. Wenn 99% das Zielniveau für die Versorgungssicherheit ist, dann sollte man sich in der Stromwirtschaft des Zahlenbeispiels die Herausnahme jedes weiteren Blocks gut überlegen.

Natürlich ist der deutsche Kraftwerkspark nicht so übersichtlich strukturiert, dass man ihn in die Formel einer Binominalverteilung packen kann. Aber auch hier gibt es statistische Methoden, mit denen man eine Kurve analog der o.a. Grafik bestimmen kann, zum Beispiel zu finden in Least-Cost Electric Utility Planning von Harry G. Stoll. Das Erscheinungsjahr 1989 macht deutlich, dass wir uns hier nicht an der Front der neuesten energiewirtschaftlichen Erkenntnisse bewegen. Wenn sich die Politik um die Versorgungssicherheit Sorgen macht, weil man beispielsweise seine ganze Stromwirtschaft umbaut und zusätzlich konventionelle Kohlekapazitäten möglichst schnell aus dem Markt nehmen will, dann sollte die Politik andere Analysewerkzeuge als Leistungsbilanzen zur Hand nehmen. Sie sind vorhanden, und sie zeigen eine deutlich genauere und deutlich schneller auch eine angespannte Lage der Versorgungssicherheit. Der Schnaps ist wahrscheinlich nur ein Kurzer.

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