Wenn mittelfristig zu kurzfristig wird – zur Stellungnahme der Leopoldina zum Ersatz russischen Erdgases in der deutschen Energieversorgung

15.03.2022 | Auch hier zu finden im Web

Gas
Gasmangellage
Energiekrise

In den Debatten rund um die Energiesicherheit Deutschlands und Europas nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ist in den letzten Tagen die Stellungnahme der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, sehr in den Vordergrund gerückt. Für mich ein sehr faszinierendes Beispiel für mediale Rezeption, überhörte sachliche Argumentationen und für den sich selbst-verstärkenden Glauben an PowerPoint. 

Mediale Rezeption

In meiner Medienwahrnehmung begegnete mir die Leopoldina-Kurzstudie zum ersten Mal im ARD-Brennpunkt am 8. März, in dem sie im Interview mit dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck als wissenschaftlicher Beleg für die Möglichkeit des kurzfristigen Verzichts auf russisches Erdgas angeführt wurde. Dieses Narrativ des „kurzfristiger Ersatz ist möglich“ begegnete mir dann noch mehrfach (Beispiele: Tagesspiegel, FAZ, ZEIT). Da ich diese einfache Botschaft kaum glauben konnte, habe ich mir die Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften einmal durchgelesen. Und mir scheint diese Medienberichterstattung eine „interessante“ Verkürzung zu sein. Ich entnehme der Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina vom 8. März in Bezug auf die Sicherheit der Gasversorgung zwei Kernaussagen, die ich ganz platt und unwissenschaftlich wie folgt formulieren würde:

  • Mit dem gespeicherten Gas und den möglichen nicht-russischen Gaslieferungen kommen wir noch durch den Sommer und Herbst.

  • Im nächsten Winter haben wir ein Problem.

Kurzfristig kommen wir also ohne russisches Erdgas aus, aber wir kaufen uns sicher Probleme für den Winter ein (wenn sich eben nicht der Ukraine-Krieg auf irgendeine wunderbare Weise gut(!) löst, denn bei einem russischen Sieg wäre politisch die Rücknahme von Sanktionen und unseres Erdgas-Boykotts wohl nur schwer darstellbar). Ich finde, das ist eine fast schon fahrlässige Verengung der Sichtweise auf „kurzfristig möglich“.  

Zumal ich glaube, dass es auch schon kurzfristig spürbare Einschnitte geben wird. Am Ende (und jetzt von mir wieder sehr vereinfachend) sagt die Leopoldina ja nicht mehr, als dass wir mit unserem Auto bei der aktuellen Tankfüllung noch 200 Kilometer fahren können und dass dies bei 5 Kilometer Weg zum Arbeitsplatz noch für 20 Arbeitstage reichen wird. Nur … würde man in so einer Situation dann tatsächlich noch jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fahren? Oder würde man nicht eher auf ÖPNV oder Fahrrad umsteigen oder zu Fuß gehen? Konkret: Wenn wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Gasmangelsituation im Winter zulaufen, sollten wir dann noch eine Bonbonfabrik im Mai mit gespeichertem Erdgas beliefern, das wir im November für ein Krankenhaus brauchen würden? Ich sehe es als dringend geboten an, mit der Bewirtschaftung einer sicheren Gasmangelsituation im Winter nicht erst im Winter, sondern schon früher (… heute …) zu beginnen.

Sachliche Argumente

Einen der sehr spannenden Punkt in der Stellungnahme der Leopoldina fand ich dabei die Betrachtung der Option „Kohle“. Die Leopoldina ist klar in ihrer Aussage, dass das Ziel eines Kohleausstiegs bis 2030 gehalten werden soll. Aber sie weist auch darauf hin, dass eine kurzfristige Mehrproduktion von Kohlekraftwerken keinen Klimaeffekt haben würde. Denn diese Kohlekraftwerke produzieren ja unter der „beschränkenden Glocke“ des europäischen CO2-Handelssystems. Das heißt für jede emittierte Tonne CO2 muss ein Emissionszertifikat gekauft werden. Das gilt natürlich auch für jede zusätzliche Tonne CO2 aufgrund von mehr erzeugtem Kohlestrom im Zuge des Ersatzes von Erdgasstrom. Die Gesamtmenge der Emissionsmengen im europäischen Handelssystem ist aber definiert und sie würde nicht ausgeweitet werden. Die Mehrnachfrage einer ansteigenden Kohleverstromung führt also nicht zu mehr Emissionsmengen, sondern „nur“ zu einem höheren CO2-Preis. Ein Klimaeffekt ergibt sich somit also nicht (nebenbei: Aus dem gleichen Grund hat auch der deutsche Kernenergieausstieg bei genauer Betrachtung keinen Klimaeffekt).

Aus Sicht der Leopoldina ist Kohlestrom also eine veritable kurzfristige Lösung – auch wenn man am Ziel eines 2030er Kohleausstiegs festhalten will. Dieses Element für die kurzfristigen Maßnahmen ist in der Debatte aber sehr im Hintergrund geblieben und wurde kaum aufgegriffen. Hier stand die Debatte rund um die Kernenergie im Vordergrund.

Der Glaube an PowerPoint

Sehr fasziniert hat mich aber der Punkt der Beschleunigung der Energiewende. Die Notwendigkeit ist offensichtlich – der Schwenk hin zu erneuerbaren Energien reduziert die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und damit natürlich auch von russischem Gas, Öl und Kohle. Aber was soll Beschleunigung in diesem Kontext eigentlich bedeuten? Die Energiewendeziele der Ampelkoalition aus dem Koalitionsvertrag sind schon maximal ambitioniert. Nur ein plakativer Punkt: Nach dem Koalitionsvertrag sind 180 GW zusätzliche PV-Erzeugung bis 2030 angepeilt… Das sind 65(!) MW angeschlossene neue PV-Erzeugung jeden(!) Wochentag (Montag – Freitag) von heute an bis 2030. Mir kommt es fast so vor, als würden wir tatsächlich glauben, wir hätten dieses Tempo schon erreicht, nur weil wir es auf jede Menge PowerPoint-Folien zur Umsetzung des Koalitionsvertrags gemalt haben. Jetzt beugen wir uns wieder über diese Folien und resümieren: Das geht noch schneller! Die Wahrheit ist: Wir sind nicht ansatzweise bei dem im Koalitionsvertrag angestrebten Tempo – 2021 waren es rund 20 MW neue PV-Erzeugung pro Wochentag. Die Diskussion rund um eine beschleunigte Energiewende bringt in diese Situation einen ganz komischen Zungenschlag – wir wollen ein Tempo erhöhen, das wir nicht einmal ansatzweise erreicht haben. Können wir bei der Energiewende schneller sein als aktuell? – aber sicher! Und unser Fokus muss(te) schon aus der Klimakrise heraus darauf liegen, diese Beschleunigung auch zu erreichen. Um noch einmal ein Autobeispiel aufzugreifen: Wir wollen aus unserem Tempo-30-Wohngebiet auf die Autobahn kommen. Vielleicht sollten wir statt zu diskutieren, ob wir auf der Autobahn dann mit 130 oder 160 km/h fahren wollen, erst einmal überlegen, wie wir aus dem Einbahnstraßengewirr rauskommen, in dem wir uns gerade verfranzt haben.

Am Ende bleibt in Bezug auf die Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina die banale Erkenntnis: Selbst lesen kostet Zeit, aber hilft.

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