Wenn Lieferanten nicht mehr liefern wollen

07.12.2022 | Auch hier zu finden im Web

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Vor ein paar Wochen las ich in Hildegard Müllers (empfehlenswerten) wöchentlichen Rundschreiben „Chefsache“ an die Mitgliedsunternehmen des Verband der Automobilindustrie (VDA) e.V., dass rund 10 % der VDA-Mitgliedsunternehmen Schwierigkeiten hätten, für 2023 einen Stromlieferanten zu finden. Kurz danach war ich auf einer Konferenz im Großraum Rhein-Ruhr, wo der Vorstandsvorsitzende eines großen dortigen Stadtwerks berichtete, dass sein Unternehmen nur noch Industriekunden mit Sitz in der Stadt Lieferverträge für 2023 anbieten würde – außerhalb würde man keine Angebote mehr abgeben. Ich saß neben dem Finanzvorstand eines anderen großen Stadtwerks, der mir zuraunte, er hätte es da mit seinem Gemeinderat besser: Er müsse nur stadtwerkstreuen Industriekunden aus seiner Stadt ein Angebot geben. Einem MDAX-Konzern, der seit 2000 seinem Stadtwerk den Rücken gekehrt hätte, habe er gerade, trotz lokalpolitischen Drucks, daher die Belieferung abgelehnt.

In der vergangenen Woche habe ich diesen Trend auch in Zahlen gesehen: Im Netzgebiet der Netze BW GmbH haben aktuell 14.324 Stromabnahmestellen keinen Lieferanten für 2023 (13.650 Lastprofilabnahmestellen in der Niederspannung, 414 echt gemessene Abnahmestellen in der Niederspannung und 260 in der Mittelspannung). Das heißt, bei diesen Kunden hat uns der bisherige Lieferant schon die Abmeldung geschickt, es hat sich allerdings noch kein neuer Lieferant für diese Kunden bzw. ihre diversen Abnahmestellen gemeldet. Warum ist das so und was passiert mit diesen Kunden bzw. Abnahmestellen, wenn das so bis zum 1. Januar 2023 bleibt?

Warum Lieferanten nicht mehr anbieten

Tatsächlich kann ich als Vertreter eines Netzbetreibers nur spekulieren. Es spekuliert sich aber in der Tat auch einfacher, wenn man nicht direkt für den Spekulationsgegenstand Verantwortung trägt. Ein offensichtlicher Grund scheint mir in vielen Fällen die Art der Ausschreibung oder des Herantritts an den Markt zu sein. Wer heute an den Markt tritt und ein Angebot mit einer Bindefrist von zwei Wochen verlangt, der wird keinen Lieferanten finden, der darauf anbieten will (bzw. kann). Zu groß ist die Gefahr, dass es in den zwei Wochen zu Marktbewegungen kommt, die das Angebot unwirtschaftlich machen.

Aber auch Kunden, die sich auf eine Angebotsbindefrist von 30 oder gar 15 Minuten einstellen, finden teilweise keinen Lieferanten mehr. Denn die tatsächlichen Gründe liegen tiefer: Ein allgemein gesehenes Risiko, dass Deutschland in eine Rezession läuft. Und wenn man kurz die Folgen einer Rezession auf einen Stromlieferanten durchdenkt, merkt man schnell, warum viele von der Belieferung von Industriekunden aktuell lieber die Finger lassen.

Eine Rezession bringt vieles mit sich, aber insbesondere zwei Sachverhalte wirken für einen Stromversorger unangenehm zusammen. Zum ersten produzieren die Unternehmen weniger und damit geht der Stromabsatz zurück. Bei einigen Unternehmen kann das auch so weit gehen, dass sie die Produktion komplett einstellen und pleitegehen. Auch das führt bei den Stromversorgern dann dazu, dass man für diese Kunden zu viel Energie beschafft hat. Und das kommt dann mit dem zweiten Sachverhalt einer Rezession zusammen – allgemein fallende Preise, insbesondere im Bereich der Großhandelsmärkte. Den Strom, den man jetzt zu viel im Portfolio hat, kann man nur noch mit Verlust verkaufen. Auf diesen Verlusten bleibt man sitzen – die bankrotten Unternehmen werden auf Schadensersatzansprüche nicht einmal antworten. Und bei den Unternehmen, die mit Produktionsrückgängen umgehen mussten, gilt sehr wahrscheinlich die alte Weisheit, dass man einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen kann.

Um es einmal ganz plakativ in Zahlen zu erläutern: Nehmen wir an, ein großer Energieversorger hat einen Industriekundenabsatz von 15 TWh für 2023 und hat diesen im Verlauf des Jahres 2022 (im Zulauf auf das Versorgungsjahr 2023) abgesichert – nehmen wir an, für im Durchschnitt 340 €/MWh (das ist der aktuelle Preis für 2023, er war im Verlauf des Jahres 2022 teilweise niedriger, aber auch schon sehr viel höher). Wenden wir darauf die Rückgänge der Weltwirtschaftskrise in 2008/2009 an – der Energieverbrauch ging um grob 6,5 % zurück, die Strompreise sanken um rund 30 % –, dann macht unser 15-TWh-Beispielportolfio aus dem Rückverkauf des zu viel beschafften Stroms an der Börse einen Verlust in Höhe von 100 Mio. €. Und dass der Lieferant für unbezahlte Steuern und Netzentgelte von pleitegegangenen Industrieunternehmen geradestehen muss, kommt noch on top. 

Das Problem in der aktuellen Marktsituation im Unterschied zur Weltwirtschaftskrise: Von 340 €/MWh aus kann der Strompreis deutlich weiter nach unten fallen als vom damaligen Ausgangsniveau 80 €/MWh. Im o. a. 30-%-Szenario stünde er ja immer noch bei rund 240 €/MWh … ein historisch unglaublich hoher Preis. Wenn man annimmt, dass der Strompreis wieder auf das langfristige Niveau von 60 €/MWh zurückgeht, nähern sich die Verluste des Beispielportfolios 300 Mio. €. Fällt zusätzlich der Mengenrückgang stärker aus, sind wir bei einer halben Milliarde Euro.

Es fällt leicht, hier Szenarien zu zeichnen, die in ihrer Schadenshöhe schnell auch das Eigenkapital eines größeren Energieversorgers erreichen. Und wenn es leichtfällt, existenzbedrohende Schadensszenarien aufzuzeigen, dann ist die natürliche Reaktion „Vermeiden!“. Und das heißt hier eben, einfach keine Industriekunden mehr zu beliefern. Zumal die Margen in dem Segment in den vergangenen Jahren so schmal waren, dass im Jahresergebnis das Fehlen eines Industriekundenabsatzes nicht bemerkt werden wird.

Was passiert, wenn man keinen Lieferanten hat?

Die grundsätzliche Regel im deutschen Strommarkt ist einfach: Strom darf nur aus dem Netz entnommen werden, wenn man dafür einen Lieferanten hat, und die Netzbetreiber (die diese Lieferantenrolle per Gesetz nicht übernehmen dürfen) sind angehalten, das durchzusetzen. Im konkreten Leben ist es etwas komplexer.

Am einfachsten ist es bei Lastprofilkunden in der Niederspannung, also Kunden, deren Stromverbrauch vom Zähler nur summarisch über das ganze Jahre erfasst wird. Diese werden, sollten sie keinen Lieferanten mehr haben, dem sogenannten Grundversorger zugeordnet. Für jedes Netzgebiet gibt es einen Grundversorger, in der Regel der historische Gebietsmonopolist. Die Kunden bekommen also einen „Zwangsvertrag“. Ob das gut oder schlecht ist, ist im aktuellen Marktumfeld schwer zu sagen. Hier und da sind diese Belieferungen über den Grundversorger sogar (deutlich) attraktiver als alles, was man auf den Vergleichsportalen finden kann. Wie auch immer: Für diese Kundengruppe gibt es einen Lieferanten, den Grundversorger, der dann die Lieferung übernehmen muss. Der damit zugewiesene Liefervertrag läuft erst einmal auf unbestimmte Zeit, die Kunden können aber jederzeit kündigen, wenn sie einen neuen Lieferanten gefunden haben.

Auch für Kunden, die Strom aus der Niederspannung mit echter (Leistungs-)Messung entnehmen, gibt es eine definierte Zuweisung. Sie werden ebenfalls dem Grundversorger zugeordnet, hier allerdings mit einem auf drei Monate begrenzten Liefervertrag. Grundsätzlich sollte das aber ausreichend Zeit sein, die Verhältnisse wieder in geordnete Bahnen zu bringen, d. h. sich einen neuen Lieferanten zu suchen. Und auch hier kann der Strom damit erst einmal weiterfließen.

Problematisch wird es für Kunden in der Mittelspannung (die sind immer „echt“, d. h. leistungsgemessen). Diese werden oftmals ebenfalls dem Grundversorger zugeordnet. Allerdings kann hier der Grundversorger die Belieferung ablehnen. Erklärt der Grundversorger gegenüber dem Netzbetreiber, dass er die Belieferung eines speziellen Kunden nicht übernehmen will, muss der Netzbetreiber diese Zuordnung zurücknehmen. Der Netzbetreiber ist dann in der Pflicht, den Kunden vom Netz zu trennen. Und das wird in der Tat fast so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Natürlich informieren wir den Kunden über die Ablehnung des Grundversorgers und fordern ihn auf, uns zeitnahst einen Lieferanten zu nennen. Aber tatsächlich ist das ein Vorgang, der in Tagen (nicht in Monaten, nicht in Wochen, nein - in Tagen!) abgewickelt wird. Es wird also sehr schnell sehr ernst.

2023 kommt

Der Jahreswechsel ist nah und insofern sehe ich mit Sorge auf die 260 Mittelspannungskunden in unserem Netzgebiet, für die zurzeit kein neuer Lieferant ab dem 1. Januar 2023 hinterlegt ist. Nach der normalen Arithmetik (auf Netze BW GmbH entfällt in der Regel immer zwischen 5 – 10 % des Gesamtmarktes) gehe ich damit bundesweit von über 3.000 Unternehmen aus. Wir haben unsere Unternehmen auch schon angeschrieben, um sie auf die Situation hinzuweisen.

Wenn wir es nicht drauf ankommen lassen wollen, dann sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten, die letztlich beide damit beginnen, dass erst einmal klar geregelt wird, wer sich um diese Fälle von Kunden ohne Versorger kümmern muss. Dem Grundversorger die Rolle zuzuweisen erscheint mir vor dem Hintergrund der Wettbewerbsintensität gerade im Industriekundenbereich unpassend – zumal teilweise auch einige historische Gebietsmonopolisten aller Größenordnungen sich aus dem Industriekundensegment zurückgezogen haben.

Eine Möglichkeit wäre also, dass der Staat den Lieferanten Garantien für das Ausfallrisiko beim Industriekundenabsatz gibt, ggf. geknüpft an eine vorliegende ausreichend gute Kreditauskunft und im Gegenzug die Belieferungspflicht auch für die Mittelspannungskunden einfordert. Oder (zweite Möglichkeit): Er übernimmt die Belieferung dieser Kunden gleich selbst – mit Uniper hat er jetzt einen veritablen Energieversorger, der – davon gehe ich aus – auch in den meisten Netzgebieten einen Lieferantenrahmenvertrag hat und sicher auch bei allen Übertragungsnetzbetreibern einen Bilanzkreisvertrag – Kunden kann man also zuordnen.

Die beste Lösung ist natürlich, dass die Kunden sich selbst kümmern. Wenn wir als Netzbetreiber uns kümmern müssen, wird es nicht schön.

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