Warum ich eine Rolle für Wasserstoff in der Energiewende sehe

09.06.2020 | Auch hier zu finden im Web

Energiewirtschaft
CO2
Klimawandel
Energiewende
Wasserstoff

Foto: Iketani, Daisei (池谷 大星), https://commons.wikimedia.org/wiki/User:IketaniDaisei

An vielen Stellen diskutieren wir zurzeit über die Bedeutung und Zukunft von Wasserstoff in der Energiewende – zuletzt setzte die Bundesregierung mit einer 9 Milliarden Euro schweren Wasserstoffstrategie ein deutliches Zeichen. Müssen wir also mehr auf Wasserstoff setzen? Darf es dann aber nur grüner Wasserstoff sein? Ist der aber nicht viel zu teuer? Diese und viele weitere wirtschaftlichen und technischen Fragen spielen eine Rolle. Mich erinnert das ein bisschen an die Diskussionen aus den Anfangszeiten des EEG. Und wenn man diese reflektiert und auf die großen Linien des Energiewendeprojekts schaut, sieht man – so glaube ich –, dass Wasserstoff eine Rolle in diesem Projekt hat. Oder, weniger enthusiastisch und genauer: Dass man eine zukünftige Rolle von Wasserstoff in der Energieversorgung vernünftigerweise nicht ausschließen kann.

Die PV-Diskussion zu Beginn des EEG

Erinnern wir uns – Photovoltaik wurde damals, Anfang der 2000er Jahre, nicht ernst genommen. Die staatliche Förderung von einer D-Mark und mehr pro PV-Kilowattstunde war doch offensichtlicher Ausdruck dessen, dass die Wirtschaftlichkeit vom Marktpreisniveau für Strom mehr als den Faktor 20 entfernt war. Die Perspektive, auf 100.000 Dächern eine PV-Anlage zu haben, wurde auf der einen Seite als illusorisch angesehen, auf der anderen Seite auch als ein energiewirtschaftlich nicht wünschenswertes Ziel – so viel Kleinkleckerleserzeugung, das bringt doch nichts. Die Diskussionen drehten sich vor allem um die technischen und wirtschaftlichen Details des PV-Potentials der Zukunft.

Völlig unterschätzt wurden die Lernkurveneffekte, die wir bei der Produktion und der Errichtung von PV-Anlagen erzielt haben. Und völlig unterschätzt haben wir auch den technischen Fortschritt, der diese Lernkurven dann noch einmal auf ein effizienteres und effektiveres Niveau gehoben hat. Heute stehen wir bei über 40 GW PV-Erzeugung in fast 2 Mio. Anlagen – die 100.000 Dächer wurden also fast um den Faktor 20 überschritten. Große Solarparks brauchen keine Förderung mehr. Das wirtschaftliche Fördervolumen aus der EEG-Umlage liegt aktuell bei 24 Mrd. € pro Jahr, für die Energiewirtschaft eine unvorstellbar große Summe (das ist die Marktkapitalisierung der EDF – jedes Jahr). Wir haben ein technisch/wirtschaftliches Niveau erreicht, das vor 15 Jahren noch undenkbar war.

Zurückblickend kann man sagen, wir haben vielleicht zu sehr über die technischen Details und zu wenig über große Linien der zukünftigen Energieversorgung diskutiert. Und genau daran erinnert mich die aktuelle Wasserstoff-Diskussion. Auch hier diskutieren wir sehr über die aktuelle Wirtschaftlichkeit und die aktuellen technischen Möglichkeiten. Ein Rückgang der Produktionskosten um mehr als den Faktor 10 wie bei den PV-Anlagen erscheint vielen heute einfach illusorisch. Gleichzeitig ordnen wir die Rolle des Wasserstoffs nicht wirklich in das Gesamtbild der Energiewende ein.

Das Gesamtbild der Energiewende

Im ganz großen Bild der Energiewende (nicht etwa der Stromwende) haben wir in Deutschland aktuell einen Energieverbrauch von 12.800 Petajoule. Um sich eine bildliche Vorstellung zu machen, was 12.800 Petajoule sind: Wenn wir die gesamte Fläche der Stadt Frankfurt/Main (Innenstadt, Flughafen, Außenstadtteile - alles) zwei Meter hoch mit Steinkohle belegen (2,12 Meter, um genau zu sein), dann hat diese Steinkohlemenge den Energiegehalt von 12.800 PJ. Erneuerbare Energien haben dabei einen Anteil von 14 % - also ungefähr die Fläche von Sachsenhausen haben wir von der zwei Meter Kohleschicht schon befreit. Bis 2050 wollen wir weitgehend treibhausgasneutral sein, d. h. wir wollen Frankfurt besenrein sauber haben.

Quelle: Umweltbundesamt, 2020

Auffallend ist für mich, dass wir uns in der Klimadebatte die letzten Jahre sehr auf die Stromwirtschaft fokussiert haben. Die Diskussion um den Kohleausstieg, die Diskussion um das EEG-Fördervolumen, die Diskussion um Windkraftanlagenabstände und Solardeckel – alles stromwirtschaftliche Themen. Die Stromwirtschaft macht aber aktuell nur noch etwa ein Drittel der Treibhausgasemissionen aus – wir fokussieren uns also auf den kleineren Teil unserer Kehraufgabe, wahrscheinlich weil man dort aufgrund überschaubarer Strukturen, konkreter Ansätze und absehbarer Themen und Herausforderungen viel besser fegen kann. Es gibt rund 41 Mio. Haushalte und 65 Mio. PKW in Deutschland, aber nur 700 Kraftwerksblöcke über 20 MW. Damit bleibt aber ein großer Teil der Aufgabe außen vor: Zwei Drittel der Emissionen kommen aus den Bereichen Industrie, Gebäude und Verkehr.

Die doppelte Wende

In unseren Debatten unterstellen wir dabei immer implizit eine doppelte Wende. Die erste Wende ist klar ersichtlich: Wir wollen uns von fossilen Energieträgern ab- und erneuerbaren Energieträgern zuwenden. Die zweite Wende ist etwas versteckt und wird daher kaum debattiert – wo sollen denn diese Energie bzw. diese Energieträger ganz konkret herkommen? Um im Bild der zwei Meter Steinkohleschicht zu bleiben: Nur 60 cm dieser Schicht beruhten auf heimischen Primärenergieträgern, der Rest wurde aus dem Ausland importiert.

Quelle: AG Energiebilanzen, 2020

Die Situation beim Energieimport und ihre Wechselwirkung mit der Energiewende ist vergleichsweise binär. Allein die Braunkohle ist eine in Deutschland verfügbare größere konventionelle Primärenergiequelle, allerdings schon lange nicht mehr die wichtigste inländische Quelle – das sind die Erneuerbaren. In den großen Linien des Energiewendeprojekts haben wir das Thema Braunkohle aber mit dem Kohleausstieg bereits adressiert – der Braunkohleausstieg ist beschlossen und vorgezeichnet. Auf der Energiewende-To-do-Liste stehen also noch Mineralöl, Erdgas und Steinkohle, die allesamt (leicht abstrahierend) komplett importiert werden.

Mein Eindruck von der Energiewende-Diskussion ist, dass wir implizit unterstellen, dass der dafür notwendige Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland stattfindet. Implizit diskutieren wir also über eine doppelte Wende – die Wende hin zu erneuerbaren Energien und die Wende hin zu einer Energieautarkie. Energieautarkie ist ein schönes Ziel und wird hier und da mit dem Schlagwort „Weg von der Ölpreisabhängigkeit“ auch mitgeführt. Aber ist es realistisch? Wir merken doch heute schon, dass der Platzbedarf von erneuerbaren Energien heftige Diskussionen auslöst – und bezogen auf das Gesamtprojekt Energiewende haben wir mit einem erneuerbaren Anteil von 14 % am Energieverbrauch gerade erst die Startlöcher verlassen. Ist es eine realistische Annahme, dass wir die doppelte Wende schaffen? Sollte Energieautarkie überhaupt eine Zielsetzung sein? Ich glaube nicht – das klimarelevante Ziel ist die Energiewende, nicht die Energieautarkie (zugegeben – das ist eine Einschätzung, keine analytische Herleitung). Als Volkswirt erinnere ich mich an mein Grundstudium und an „Ricardo“ – es gibt keinen Grund zu glauben, dass es nicht auch im Energieumfeld komparative Kostenvorteile gibt. Und das bedeutet, dass eine autarke Energiewende teurer ist als eine international offene Energiewende. Wir werden mit der Energiewende sicher eine höhere Energieunabhängigkeit erreichen, was gut ist. Aber zu glauben, wir schaffen die Energiewende und gleichzeitig eine Energieautarkie, halte ich für ambitioniert bis illusorisch.

Die Rolle des Wasserstoffs

Wenn aber eine komplett erneuerbare Erzeugung allein als Platzgründen in Deutschland schwer oder gar nicht darstellbar ist, dann haben Energieimporte weiterhin eine (wesentliche) Rolle. Und dann ist die Frage der Energieträger für eine Energiewende noch einmal genauer zu betrachten, denn wir haben hier wenige Optionen: Strom, grüne Gase (Biogas bzw. Biomethan) und eben grünen Wasserstoff. Ich maße mir keine Einschätzung an, welches hier das richtige Pferd ist – mein Punkt ist nur: Es sind wenige Pferde und aus Risikogesichtspunkten ist es immer besser, mehr als eines zu haben. Sind wir so sicher, dass wir Wasserstoff als Option nicht brauchen? Energieversorgung ist dann sicher, wenn sie auf einem Portfolio aufbaut.

Gerade bei einer fortlaufenden Importabhängigkeit sind Wasserstoff und grüne Gase wertvolle Ergänzungen und vielleicht auch einmal zentrale Pfeiler eines Energieportfolios. Die Transportfähigkeit ist noch einmal eine andere als die von Strom – man muss sich nur den weltweiten LNG-Gasmarkt anschauen, um zu sehen, dass man sich von einer leitungsbasierten Versorgungsinfrastruktur international durchaus lösen kann. Damit einher geht, dass eine Speicherbarkeit von Gasen auch in einem für die Versorgungssicherheit relevanten und maßgeblichen Umfang möglich ist, dass es also grundsätzliche Möglichkeiten gibt, mit Importunterbrechungen umzugehen. Strom bietet das alles nicht.

Auch mit Blick auf die Sektorkopplung erscheint ein Portfolio von Optionen empfehlenswert, wenn Sektorkopplung mehr sein soll als die durchgehende Elektrifizierung des gesamten Wirtschaftslebens. Wenn Sektorkopplung am Ende nicht die „all electric society“ ist, dann stellt sich schon die Frage, welche Energieträger es dann sind – und die wesentlichen bekannten Optionen sind eben grüne Gas und grüner Wasserstoff. In Teilen des Gebäudebestands ergibt sich nur mit diesen Energieträgern eine Perspektive jenseits davon, alles komplett zu erneuern.

Ich weiß, dieser Artikel enthält viele persönliche Meinungen und Einschätzungen über eine unsichere Zukunft. Ich glaube, die einfache Zusammenfassung ist, dass wir noch viel zu früh im Energiewende-Projekt sind und viel zu wenig Optionen für das ganze Projekt haben, um jetzt schon eine dieser wenigen Optionen auszuschließen. Ja, das Weiterverfolgen der Option Wasserstoff wird Geld kosten. Aber das ist das Wesen von Optionen – man muss Geld ausgeben, um sie zu haben, und glücklich ist der, der Optionen hat.

Bleiben Sie auf dem Laufenden

Tragen Sie sich jetzt in meinen Newsletter ein, um benachrichtigt zu werden, wenn ein neuer Artikel erscheint.

Sie haben eine Frage oder ein spannendes Thema?

Kontaktieren Sie mich gerne per E-Mail.