Viel Wind um die Merit Order – Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte

17.10.2022 | Auch hier zu finden im Web

Energiewirtschaft
Markt

Mit den Marktpreisentwicklungen der letzten Monate ist die Art, wie sich am täglichen Spotmarkt die Preise bilden, in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Der Merit-Order-Effekt wird dabei breit kritisiert – so breit, dass die Merit-Order es selbst in die BILD-Zeitung geschafft hat und dort als (der) Preistreiber identifiziert wird (Zitat BILD: „Der Strompreis geht durch die Decke! Ein Grund dafür: das sogenannte >>Merit-Order-Prinzip<<“). Dabei war die Merit Order nicht immer so unbeliebt. Im Gegenteil! Jürgen Trittin sah in ihr 2013 noch einen Grund für niedrige Strompreise, als er einen höheren EEG-Beitrag der Industrie forderte (Zitat Jürgen Trittin: „Erhöhung des Mindestbeitrags der Industrie zum EEG als Ausgleich für die Preissenkungen beim Börsenstrom durch den Merit-Order-Effekt.“).

Die Verwirrung liegt schon im Begriff Merit Order. Eine Merit-Order (also einfach übersetzt eine Vergütungsreihenfolge) wird man wohl immer und in jeder Auktion bilden – ansonsten wäre es ja eher eine Freihandvergabe oder Lotterie. Mitgemeint unter dem Begriff Merit Order ist in den aktuellen Debatten regelmäßig das System des „pay as cleared“ (locker übersetzt „Auszahlen wie geräumt“), wonach alle Bieter den Preis des teuersten noch erfolgreichen Gebots ausgezahlt bekommen (sowohl die BILD als auch Jürgen Trittin stellten auf dieses Prinzip in ihren Zitaten ab).

„Pay as cleared“ muss weg – das ist ein oft geäußertes Statement in der Debatte. Wie immer im Leben – so auch hier – ist das „Muss weg!“ der einfache Teil. Schwieriger ist das „Was soll denn dafür hin?“. Irgendwie muss der Preis im Markt ja gebildet werden, wenn man einen Markt erhalten will (der Übergang in andere Sphären kann dann ganz flott gehen, wie man gleich sehen wird). Die grundsätzliche Alternative ist „pay as bid“ („Auszahlen nach Gebot“). Aber ist das dann der sichere Weg zu niedrigeren Preisen?

Die “pay-as-bid”- Merit-Order als Windschutz?

Natürlich wird auch bei “pay as bid“ eine Merit Order erstellt. Akzeptiert und somit in den Kraftwerkseinsatz kommen so viele der günstigeren Gebote, wie man eben für die Befriedigung der Nachfrage benötigt. Alle Bieter bekommen genau ihren Gebotspreis ausgezahlt, d. h. teure Kraftwerke werden, sofern man sie braucht, nach Gebot teuer entlohnt, aber das hat keine Auswirkungen auf die Auszahlungen an die übrigen Kraftwerke, die eben auch „nur“ entsprechend ihres Gebots entlohnt werden.

Es wäre aber falsch zu glauben, dass das Angebotsverhalten der Kraftwerke unter den beiden Systemen „pay as cleared“ und „pay as bid“ identisch ist. Bei „pay as cleared“ ist es optimal, sein Gebot an den Grenzkosten seines Kraftwerks auszurichten. Damit stellt man sicher, dass man immer mit seinem Angebot zum Zug und damit zum Einsatz kommt, wenn der finale Preis über den eigenen Grenzkosten liegt, man also auf jeden Fall einen Rohgewinn (definiert als Einnahmen minus Grenzkosten) erzielt. Dieses Bieterverhalten kann man bei „pay as bid“ nicht durchhalten, da man dann immer ja genau nur die Grenzkosten erstattet bekäme, also nie Fixkostendeckungsbeiträge erwirtschaften würde. Man muss(!) also über Grenzkosten bieten.

Bieten im Windschatten

Bei der Frage, wie stark man über die Grenzkosten geht, wird man das Marktumfeld beobachten. In der umfangreich gegebenen Transparenz des europäischen/deutschen Strommarkts kann einigermaßen gut abgeschätzt werden, wie viele Kraftwerke gebraucht werden und wie viel diese jeweils mindestens bieten müssen, um keine Verluste zu machen. So ist der Kraftwerkspark mit seinen jeweiligen Primärenergieträgern bekannt, über die REMIT-Meldungen weiß man sehr genau, welche Kraftwerke tatsächlich verfügbar sind. Auch über die Nachfrage veröffentlichen die ÜNB gute Daten und mit Wetterprognosen sind Wind- und PV-Erzeugung gut abschätzbar. Im aktuellen Marktumfeld bedeutet das also: Man würde bei „pay as bid“ nicht automatisch die Gebote der teuren Gaskraftwerke ausgezahlt bekommen, aber man könnte sich knapp unter diese Gebote legen. Die Anbieter mit günstigeren Grenzkosten nutzen gewissermaßen den Windschatten aus, den die Anbieter mit hohen Grenzkosten erzeugen.

Ob „pay as bid“ damit zu niedrigeren oder höheren Einnahmen führt als „pay as cleared“ ist schwer zu sagen. Richtig ist, dass bei „pay as bid“ der Automatismus, mit dem die hohen Gebote der teuren Gaskraftwerksanbieter sich auf die übrigen Marktteilnehmer übertragen, entfällt. Die günstigeren Anbieter müssen überlegen, wie hart sie den Windschatten ausnutzen und dabei abwägen zwischen „überreißen“ (und nicht zum Zuge kommen) oder mit günstigeren Geboten Deckungsbeiträge liegenzulassen. Gleichzeitig müssen auch die teureren Gaskraftwerksanbieter höhere Gebote abgeben (also mehr Windschatten bieten), denn nur mit Grenzkostengeboten können auch sie nicht überleben.

Der Wind weht zum Monopol

Letztlich ist also zu erwarten, dass auch in einem „pay as bid“ Markt für Kraftwerksbetreiber mit günstigeren Grenzkosten (sehr) hohe Deckungsbeiträge anfallen. Die Debatte um Übergewinne ginge also auch im neuen Marktdesign weiter und würde dann um das Gebotsverhalten kreisen. Bei „pay as cleared“ ist das Gebotsverhalten einfach zu evaluieren: Grenzkostengebote sind im Wettbewerbsmarkt optimal und entsprechend zu erwarten. In zahlreichen Untersuchungen zur Marktmacht im Strommarkt hat man das in den letzten Jahren auch genauso gemacht. Einfach eine Merit Order auf Basis der reinen und sehr transparenten Grenzkosten erstellen. Wenn der tatsächliche Marktpreis über dem sich aus der theoretischen Merit Order ergebenden Preis liegt, besteht Marktmachtverdacht (liegt er darunter, sind das Modellungenauigkeiten…).

So einfach geht das bei „pay as bid“ nicht. Denn zur Kostendeckung muss man über den Grenzkosten bieten. Hier Gebote auf ihre Sachgerechtigkeit hin zu bewerten wird damit beliebig schwierig. Welche Einsatzzeiten werden unterstellt, d. h. wie viele erfolgreiche Gebote werden angenommen, über die dann die Fixkosten gedeckt werden müssen? Die Fixkosten selbst sind ein weites Feld, einige hängen am Betrieb über die Woche, den Monat und/oder das Jahr. Und was ist mit den Kapitalkosten? Auf wie viele Jahre werden kalkulatorisch die Abschreibungen verteilt? Und vor allem, welchen Eigenkapitalzinssatz nimmt man für die Investition an? Und wer jetzt denkt „Moment – zumindest für diese letzte Frage gibt es doch eine Antwort! Die BNetzA legt doch für die Netzbetreiber immer einen Eigenkapitalzinssatz fest!“, der ist schon auf der richtigen Spur: Bei Vorgaben für das Bieterverhalten in einem „pay as bid“ Markt nähert man sich mit riesigen Schritten einer Kostenregulierung und damit einem Monopolsystem. Das funktioniert auch (die gesamte Stromwirtschaft wurde so in der Vergangenheit aufgebaut), allerdings wollten wir doch aus Gründen der gesamtwirtschaftlichen Effizienz eigentlich davon weg.

Kein frischer Wind in der Debatte

Manchmal hatte ich die letzten Wochen das Gefühl, wir diskutieren das Merit Order Thema so, als sei es ein neues, gerade entdecktes Problem. Das ist es aber nicht, es ist eine ganz alte und große Frage bei der Organisation von Märkten bzw. Auktionen. Ich selbst habe 1997 bis 2000 in Großbritannien bei PowerGen gearbeitet und dort diese Debatten beispielsweise auch schon mitgemacht (wer einen Eindruck über die Breite der internationalen Diskussionen haben möchte:  Einfach mal „pay as cleared pay as bid university” googeln).

Der englische Strommarkt wurde ab 1990 über den sogenannten „Pool“ organisiert. Alle Kraftwerksbetreiber mussten auf Tagesbasis ihre Erzeugung dem Pool anbieten. Dieser erstellte eine Merit Order, rief auf dieser Basis ab und zahlte an alle erzeugenden Kraftwerke den SMP, den „System Marginal Price“ – „pay as cleared“ also. Über die 1990er Jahre waren die Strompreise in England & Wales (Schottland und Nordirland hatten separate Systeme) durchaus hoch und damit Anlass zu allerlei Diskussionen. Diese wurden 1997 durch die Regierung institutionalisiert, indem unter der Überschrift NETA („New Electricity Trading Arrangements“) eine Reformdebatte für den Pool angestoßen wurde. Ab 2000 wurde der Pool auch abgeschafft und auf „pay as bid“ umgestellt.

Die Strompreise in England & Wales sind Ende der 1990er deutlich gefallen… Ob das aber an NETA lag, wird heute noch diskutiert. Im Pool wurden die Preise im Kohlesegment gesetzt und das war bei Beginn, aus dem alten staatlichen Gesamtmonopol kommend, ein Duopol (National Power hielt 60 %, PowerGen 40 % aller Kohlekraftwerke). Mitte der 1990 verkauften National Power und PowerGen Kraftwerke an Eastern Electricity – aus dem Duopol wurde ein sehr enges Oligopol. Ende der 1990er, knapp vor dem Start der NETA, verkaufte National Power weitere Kohlekraftwerke an AES und British Energy, PowerGen an Edison Mission und EDF. Beide hielten danach kaum noch Kohlekraftwerke. Ein deutlicher Preisrückgang zeichnete sich auch schon in den letzten Tagen des Pools ab und es gab einige Stimmen, die den Preisrückgang auf die Fragmentierung des Kohlesegments und nicht auf NETA zurückführten.

Die Merit Order als Lösung in stürmischen Zeiten?

Ich erinnere mich an ein großes Expertengremium zu NETA, in der ich Zuschauer sein durfte. Ein Professor aus Cambridge stellte trocken fest, dass der Pool kein Design-, sondern ein Marktmachtproblem habe. Und Marktmacht, so seine trockene Sicht, wird spürbar, – immer und egal welches Marktdesign vorliegt.

Man kann gerne über das Marktdesign diskutieren und überlegen, ob wir von „pay as cleared“ zu „pay as bid“ wechseln. Man sollte sich nur nicht der Illusion hingeben, dass das in der aktuellen Situation etwas ändern würde (bzw. dass die aktuelle Situation wesentlich anders („besser“) wäre, wenn wir schon „pay as bid“ hätten). Das energiewirtschaftliche Kernproblem ist der Ausfall der russischen Gaslieferungen, also der spontane Wegfall der Hälfte unseres Gasimports. Und die Aufgeregtheit der „pay as bid“-Debatten erzeugen vielleicht viel Wind, aber mit Sicherheit kein Gas.

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