If it ain’t broke – don’t fix it - Anmerkungen zur Kapazitätsmarktdebatte

01.01.2013

Kapazitätsmärkte
Handel
Energiewirtschaft
Markt

Mit den Vorschlägen der Bundesregierung zur Schaffung einer „Netzreserve“ hat die Debatte rund um die Leistungsabsicherung und um Kapazitätsmärkte eine weitere Wendung erfahren. In der politischen Diskussion wird zunehmend als selbstverständlich vorausgesetzt, dass etwas getan werden muss, um langfristig eine ausreichende Gesamtkapazität zur Stromerzeugung zu sichern. Implizit, manchmal auch explizit geäußert, bedeutet das, dass man dem Markt als zentrales Ordnungsprinzip einer wettbewerblichen Stromwirtschaft nicht mehr zutraut, eine langfristig sichere Stromversorgung zu garantieren.

Vertrauen in den Markt

Sieht man sich die Entwicklung des Strommarktes in den vergangenen Jahren an, muss dieses Misstrauen überraschen. Seit der Liberalisierung hat die Stromwirtschaft eine durchgehend sichere Versorgung gesteuert über die Marktsignale gewährleistet. Die Entwicklungen in der Energiepolitik und in der Stromwirtschaft selbst spiegeln sich dabei in den Marktpreisen wieder. Die beobachtbaren Marktpreise sind gut erklärbar und können mit Ereignissen wie der Abschaltung der acht älteren Kernkraftwerke nach Fukushima 2011 oder mit dem Zubau von fast 12 GW neuer Erzeugung in den kommenden Jahren in sinnvolle, nachvollziehbare Beziehungen gesetzt werden.

Die sprunghaft angestiegenen Terminpreise in der Woche vom 14. bis 18. März 2011, der Woche nach dem Fukushima-Unglück, zeigen exemplarisch, wie der Markt über Preise Knappheitssignale weitergibt. Dem politischen Willen zur sofortigen Abschaltung der älteren acht Kernkraftwerke folgte die umgehende Erkenntnis der Marktteilnehmer, dass mit dem verknappten Angebot auch die Strompreise steigen müssen und dass aufgrund der Kurzfristigkeit dieses überraschenden Ereignisses die Situation in der nahen Zukunft, also im nächsten Monat und in den nächsten Quartalen, angespannter sein müsste als im ganzen nächsten Jahr, da dann ausreichend Zeit ist für Anpassungen der Marktteilnehmer. Genau dies sieht man in den Strompreisen – alle Terminprodukte stiegen an, die Terminpreise für Month-ahead und Quarter-ahead jedoch stärker als für Year-ahead (siehe Abbildung 1, eigene Darstellung auf Basis von Terminpreisen der EEX).

Abb. 1: Terminpreise in der Woche 14. bis 18.3.2012

Schaut man sich den Verlauf beispielsweise der Preise für das Jahresband 2012 in den Tagen nach dem Fukushima-Unglück an, kann man in den Preisverläufen sogar die Pressekonferenzen der Bundeskanzlerin identifizieren (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Screenshoot Bloomberg für die Tage 10.3. bis 16.2.2011

In den Wochen nach Fukushima stiegen die sog. Clean-Dark-Spreads. Der Clean-Dark-Spread ergibt sich aus der Differenz zwischen Strompreis auf der einen und Kosten für Kohle und CO2 auf der anderen Seite. Er gibt so die grundsätzliche Wirtschaftlichkeit der Kohlestromerzeugung an. Offensichtlich ist die wirtschaftliche Lage für Kohlekraftwerke in einem Markt mit acht Kernkraftswerksblöcken weniger besser. Auch hier können Marktpreise und Marktgeschehen in einen sinnvollen Zusammenhang gesetzt werden.

Betrachtet man die Clean-Dark-Spreads der Jahre 2013, 2014 und 2015 fällt auf, dass sie Jahr für Jahr um gut zwei Euro/MWh fallen (siehe Abbildung 3, eigene Berechnung und Darstellung auf Basis von Terminpreisen der EEX, der ICE Futures Europe und der EZB). In den nächsten Jahren gehen 12 GW neuer Kraftwerkskapazitäten in Betrieb, die ältere Kraftwerke verdrängen. Mit den neuen günstigeren Kraftwerken geht eine flachere, niedrigere Grenzkostenkurve der Merit Order einher – zunehmend fallende Strompreise sind die Folge. Bei prinzipiell unveränderten Kohle- und CO2-Preisen führt dies zu sinkenden Clean-Dark-Spreads.

Abb. 3: Clean-Dark-Spreads für die Jahre 2013, 2014 und 2015

Diese ereignisorientierten Belege eines funktionierenden Marktes sind in keiner Weise eine vollwertige Marktfunktionsprüfung. Sie verdeutlichen aber, dass es gute Gründe gibt, die Funktionsfähigkeit des Marktes anzunehmen. Und sie geben Grund zu verlangen, dass die Beweislast bei denen liegt, die dem Markt seine Funktionsfähigkeit absprechen. Fairerweise muss angemerkt werden, dass einige Befürworter von Kapazitätsmärkten weniger auf eine mangelnde Funktionsfähigkeit sondern mehr auf einen nicht ausreichend langen Blick des Marktes in die Zukunft abstellen: Der Markt würde nicht für ausreichenden Neubau sorgen, weil er die notwendigen Knappheitssignale nicht rechtzeitig senden kann. Der Neubau eines Kraftwerks dauert fünf Jahre und mehr, belastbare Marktpreise gibt es aber nur für zwei Jahre in die Zukunft. Aber auch diese Betrachtung muss hinterfragt werden.

Zurück in die Zukunft

Mit der Tatsache, dass Ereignisse und Entwicklungen der Energiewirtschaft sich in den Strommarktpreisen widerspiegeln geht einher, dass sich der Strommarkt gut modellieren lässt. Jedes Stromhandelshaus, jedes in der Energiewirtschaft tätige Beratungsunternehmen, zahlreiche Universitätsinstitute und, wie die Sektoruntersuchung gezeigt hat, auch das Bundeskartellamt unterhalten Modelle, die grenzkostenbasiert den Strompreis modellieren. Alle haben genug Vertrauen in diese Modelle, um auf deren Basis Geschäfte abzuschließen, Beratungen zu verkaufen, Veröffentlichungen zu machen oder Regulierungsentscheidungen zu treffen. Angenommen, es gäbe 2020 eine sich verschärfende Knappheitssituation in der Stromerzeugung, dann würde sie sich heute schon in diesen Modellen zeigen. Und diese Modelle würden heute schon Strompreise auswerfen, die diese Knappheitssituation abbilden. Warum wird also von einem fehlenden Preissignal gesprochen? Warum funktioniert dieser Ansatz des modellierten Preissignals nicht?

Der wesentliche Grund, warum dies nicht funktioniert ist, dass die Unsicherheiten der Energiepolitik über die nächsten Jahre einfach zu groß sind. Und dies nicht nur im Klein-Klein des energiepolitischen Tagesgeschäftes von Fördersätzen und Zubaugrenzen für Fotovoltaik, sondern auch in den großen grundsätzlichen Linien: Re-fokussiert man sich auf den Klimaschutz und setzt dies dann auch konsequent um? Oder wird die aufkommende Debatte um die Kosten der Energiewende weiter an Fahrt gewinnen und zu maßgeblichem politischen Handeln führen? Wird es nach dem Kernenergieausstieg auch einen Steinkohleausstieg geben? Je nach Antwort auf diese Fragen sehen der modellierte Strommarkt und die sich ergebenden Strompreise ganz anders aus. Die Unsicherheit aus dem Markt ist im Rahmen einer wettbewerblich organisierten Volkswirtschaft für jede Branche selbstverständlich und auch in der Stromwirtschaft zu akzeptieren. In der Stromwirtschaft kommt aber die Unsicherheit überwiegend aus dem politischen Prozess. Für die Wirtschaftlichkeit von Kraftwerksinvestitionen hat die Bundestagswahl 2013 wahrscheinlich eine größere Bedeutung als der Ölpreis.

Den Teufelskreis durchbrechen

So gesehen sind Kapazitätsmärkte nur eine weitere Runde im Teufelskreis: Die politische Unsicherheit führt zu einer Zurückhaltung bei Kraftwerksinvestitionen. Als Antwort wird die politische Unsicherheit mit der Debatte um Kapazitätsmärkte und deren mögliche Ausgestaltung noch einmal erhöht. Das ganze erfolgt dabei in dem Umfeld sich selbst bestätigender Prophezeiungen: Man vertraut dem Markt nicht, eine nachhaltig sichere Energiewirtschaft fortzuschreiben. Die infolge dieses Misstrauens unternommenen Aktivitäten beeinträchtigen die Markteffektivität und bestätigen so die Ausgangsannahme.

Dabei geht es nicht um blindes Vertrauen in „den Markt“ – Marktversagen ist ein bekanntes Phänomen und in der Stromwirtschaft hat ein Marktversagen im extremsten Fall auch eine andere Auswirkung als ein Ausverkauf der Lieblings-Croissants beim Bäcker um die Ecke. Es geht darum, die marktwirtschaftliche Ausrichtung als zentrales Organisationsprinzip der Energiewirtschaft nicht auszuhöhlen sondern zu bestätigen.

Eine marktorientierte Herangehensweise an die Frage der Absicherung von Versorgungssicherheit aus einem Marktmechanismus baut daher auf folgenden Punkten auf:

  • Umfassendere Analyse der Versorgungssicherheit: Bei all der Sorge um die langfristige Versorgungssicherheit muss es überraschen, dass es bisher keine fortlaufenden Berechnungen der Loss-Of-Load-Probability des deutschen Kraftwerkpark gibt. Wie hoch ist denn eigentlich die Wahrscheinlichkeit, dass wir in 2013 einen Stromausfall erleben werden? Wie hoch ist der Erwartungswert für die Anzahl der Stunden, in denen Deutschland auf die Hilfe des europäischen Verbunds bauen muss? Obwohl es energiewirtschaftliche Werkzeuge gibt, sich diesen Fragen analytisch zu nähern, findet die Kapazitätsmarktdebatte sehr auf Basis einer „gefühlten Versorgungssicherheit“ statt – es ist bezeichnend, dass diese Debatte vor dem Hintergrund von 12 GW Kraftwerkskapazität in Bau begonnen hat.

  • Umfassendes Monitoring der Marktteilnehmer: Es gibt viele Gründe für Marktversagen und nicht alle sind unbedingt technischer Natur. Insofern ist gegen ein umfassendes Monitoring des Marktverhaltens der verschiedenen handelnden Unternehmen wenig mehr einzuwenden, als dass es effizient erfolgen sollte. Bundeskartellamt, Bundesnetzagentur, ACER und allfällige weitere Marktüberwachungs-Stellen sollten ihre Abfragen der Handelsgeschäfte nach demselben (nicht dem gleichen) Verfahren und Datenformat durchführen.

  • Marktneutrale Ausgestaltung von strategischen Reserven: Möchte man jetzt schon Kraftwerkskapazitäten für Reserven buchen, so ist ihr Einsatz so zu gestalten, dass eine Marktbeeinflussung verhindert oder mindestens weitestgehend vermieden wird. Ein Modell der strategischen Reserven ist die jetzt beschlossene Netzreserve. Der Übertragungsnetzbetreiber hat die Möglichkeit Kraftwerksblöcke, die vom Betreiber eigentlich zur Stilllegung vorgesehen waren, für weitere fünf Jahre am Netz zu halten. Voraussetzungen sind, dass der Betreiber eine Stilllegung ausdrücklich ankündigt und das betreffende Kraftwerk aus Sicht des Übertragungsnetzbetreibers systemrelevant ist. Der Übertragungsnetzbetreiber muss dann dem Betreiber für die fünf Jahre verlängerten Betrieb die Kosten erstatten. Zu begrüßen ist, dass die Bundesregierung tatsächlich auch einen marktfernen Einsatz der Netzreserve vorgesehen hat: Die (Netz-)Reservekraftwerke dürfen erst eingesetzt werden, wenn im Markt keine Kapazitäten mehr verfügbar sind.

Fazit

Bis vor zwei Jahren hatten wir in Deutschland eine Debatte, dass die Strompreise oligopolistisch überhöht sind – heute haben wir eine Debatte, dass diese oligopolistisch überhöhten Strompreise unter den Vollkosten liegen und insofern zu niedrig sind, um eine nachhaltige Stromwirtschaft zu sichern. Vielleicht ist die Wahrheit ja eine ganz einfache: Der Strommarkt funktioniert. Und für funktionierende Systeme gibt es einen einfachen Management-Grundsatz: If it ain’t broke – don’t fix it!

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