Die Rolle des Stromnetzes in der Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende

19.01.2022 | Auch hier zu finden im Web

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Der Koalitionsvertrag setzt gewaltige Ziele für die zum Klimaschutz notwendigen Wenden im Bereich Energie, Mobilität und Wärme. Und gerade im Stromverteilnetz wird das zu spüren sein, denn die energiewirtschaftlichen Themen, die der Koalitionsvertrag sich vornimmt, haben (fast) alle etwas gemein: Sie müssen (fast) alle an das Verteilnetz angeschlossen werden. Und die Einstellung unseres Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz Dr. Habeck zum Risiko des Scheiterns bei den sehr ambitionierten Vorhaben – sinngemäß: Es sei doch besser, die Ziele jetzt endlich anzugehen, auch mit dem Risiko zu scheitern, als im Nichtstun erfolgreich zu sein – macht für die Verteilnetzbetreiber kaum einen Unterschied. Wird bis 2030 nur die Hälfte des Koalitionsvertrags umgesetzt, wird das – gemessen an den Zielen - wohl als ein Scheitern angesehen werden. Die Verteilnetzbetreiber werden jedoch hart arbeiten müssen, um selbst diese Hälfte im Verteilnetz zu integrieren. Das Verteilnetz ist also zentral für die Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende– hat es deshalb auch eine zentrale Rolle?

Die strategische Frage für die zukünftige Rolle des Verteilnetzes ist dabei, ob es zu einem Engpass wird oder ob wie in den letzten 40 Jahren jeder Strom nutzen kann, ohne sich über Verteilnetzfragen Gedanken zu machen. Strom kommt aus der Steckdose – diese Selbstverständlichkeit sitzt tief in unserer Gesellschaft und ist Ausdruck der großartigen technischen Performance insbesondere der Verteilnetzbetreiber über die letzten Jahrzehnte (auch wenn wir viel über ausreichende Kraftwerksleistung diskutieren – tatsächlich fällt der Strom eigentlich nur aus, wenn es ein lokales Verteilnetzproblem gibt). Die Einführung der Vorgabe, dass Wallboxen ab 11 kW eine Genehmigung des Verteilnetzbetreibers benötigen, brachte erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Netzfrage in den Mittelpunkt einer Endkonsumentenentscheidung. Und wir merken in unserer Praxis, dass die Kunden durchaus damit fremdeln, sich bei einer Frage der Organisation ihres privaten Konsumentenlebens vom Verteilnetzbetreiber reinreden zu lassen.

Dabei war das nicht immer so. Noch in den 1980er Jahren gab es die Tarifaufnahme. Der Grundpreis für die Stromversorgung (damals noch integriert Netz und Lieferant) richtete sich nach Anzahl der bewohnten Zimmer in einer Wohnung. Und da konnte es durchaus passieren, dass ein Mitarbeiter des örtlichen Elektrizitätswerks bei Ihnen vorbeikam und mit Ihnen diskutierte, dass diese Abstellkammer doch eigentlich ein Wohnraum sei (genau – die Wohnung wurde begangen). Für Gewerbekunden wurde jedes elektrische Gerät und jede Glühbirne erfasst – der Preis bemaß sich dann an der angeschlossenen Leistung.

Das Bild zeigt einen Auszug aus einer Tarifaufnahme einer Tennishalle von 1982. Erfasst wurden unter anderem eine Ballwurfmaschine (2 x 50 W) und ein Getränkeautomat (120 W). Das Praxisbeispiel zeigt auch den Detaillierungsgrad: Ein Staubsauger (300 W) und eine Kaffeemaschine (800 W, geführt in einer anderen Tabelle als „Wärmegerät“) waren auch dabei. Man sieht: Der Umfang, in dem ein Kunde das Netz wohl nutzen werde/könnte, war für die Preisbildung entscheidend.

In den 1980ern hat man dieses System dann abgeschafft und im SLP-Bereich durch ein einfaches Grund- und Arbeitspreismodell ersetzt, das sich dann mit Liberalisierung und Unbundling in die Netzentgelte fortgesetzt hat. Ganz einfach, weil die Scheingenauigkeit und der Ärger der Tarifaufnahme erkannt wurde (und das Betrugspotential – bei der nächsten Tarifaufnahme der Tennishalle war der Anreiz natürlich groß, die Kaffeemaschine und den Staubsauger mal schnell zum Nachbarn zu bringen). Gerade im Haushaltsbereich wurden die Kunden in ihrer Ausstattung mit elektrischen Verbrauchseinrichtungen als so ähnlich angesehen, dass man keine Preisdifferenzierung in dieser Kundengruppe mehr vornehmen wollte. Die große Frage mit dem Blick nach vorne ist für mich: Ist diese Annahme eigentlich noch haltbar? Kunden haben PV-Anlagen auf dem Dach, Batterien im Keller, Wallboxen in der Garage, heizen mit einer Wärmepumpe. Jeder dieser Anwendungen geht mit einer erheblichen Netznutzung einher, die erheblich von dem abweicht, was „normalerweise“ in einem Privathaushalt elektrisch „passiert“. Ist vor diesem Hintergrund das einheitliche SLP-Netzentgelt unabhängig von der potentiell in Anspruch genommenen Netzkapazität noch angemessen?

Das Netzlabor zur Elektromobilität in Ostfildern der Netze BW GmbH verdeutlicht die sich ergebenden Fragen auf plakative Weise. An einem Straßenzug mit 20 Haushalten hatte die Netze BW GmbH 10 Haushalten ein Elektroauto zur Verfügung gestellt. Wir hatten es allen 20 Haushalten angeboten, aber 10 Haushalte organisierten ihre individuelle Mobilität anders als mit einem Elektroauto oder wollten nicht an dem Versuch teilnehmen. In 1,5 Jahren waren einmal 5 Autos für 20 Minuten gleichzeitig zur Beladung am Netz. In unseren anderen Elektromobilitätslaboren haben wir auch andere Gleichzeitigkeiten beim Laden gesehen, aber bleiben wir zur Illustration bei diesem Beispiel: 20 Haushalte, 10 Elektroautos, von denen in der Spitze 5 gleichzeitig für 20 Minuten am Netz laden.

Nehmen wir an, das Netz reicht nur zur Beladung von 3 Elektroautos: Bauen wir das Netz aus? Und wenn ja, für die gleichzeitige Beladung von 4 oder 5 Elektroautos? Und wer soll diesen Ausbau bezahlen? Alle 20 Netzkunden in dieser Straße oder nur die 10 Elektromobilitätshaushalte? Ein ÖPNV-Nutzer könnte ja sehr wohl die Frage stellen, warum er sich hier an den Kosten der individuellen Mobilitätsentscheidung der Nachbarn beteiligen soll. Was ist, wenn die Stromlieferanten der 10 Elektroautohaushalte jetzt beginnen, die Beladung nach den Marktpreisen des Stroms auszurichten – und die Gleichzeitigkeit auf 7, 8 oder 9 Autos steigt? Wer zahlt diesen Netzausbau? Immer noch alle? Sollte nicht erst einmal sichergestellt werden, dass die Optimierungserlöse am Markt größer sind als die Kosten für den notwendigen Netzausbau? Und warum wird der notwendige Netzausbau nicht aus diesen Optimierungserlösen gezahlt? In der kleinen Netzlaborwelt von Ostfildern werden die Gerechtigkeitsfragen, die mit der neuen Energiewelt einhergehen, konkret.

Wir werden diese Fragen in den nächsten Monaten im Rahmen der Umsetzung des § 14a EnWG konkret angehen und in den kommenden Jahren immer wieder überprüfen müssen. Zentraler Punkt ist dabei, wie wir mit der Flexibilität der neuen Netznutzer wie Wallboxen, Wärmepumpen, Batterien etc. umgehen. Man muss sich entscheiden, wo man diese Flexibilität einsetzt – ist sie am Markt verkauft, kann sie nicht mehr zur Reduktion von Netzbelastungen eingesetzt werden. Ist sie vom Netz vorbelegt, ist eine Vermarktung nicht mehr möglich. Ich bin überzeugt, dass Flexibilität im Markt einen höheren Wert hat als im Netz. Mit dieser Überzeugung und dem Grundsatz, dass pauschale schwarz/weiß Antworten nie gut sind, kann man aber schon Ordnung in die kleine Welt des Netzlabors in Ostfildern bringen:

Zunächst baut man das Netz nicht für die letzte Nutzung aus, denn dies wäre dann vermutlich auch exorbitant teuer. In dem Fall ohne Marktoptimierung heißt das also, dass die 5 ladenden Wallboxen für 20 Minuten um 1/5 eingesenkt werden und ein Netzausbau dann nur für maximal 4 gleichzeitig ladende Wallboxen konzipiert werden müsste. Dafür müssten aber alle 10 Wallboxen zwingend für den Netzbetreiber steuerbar sein (man weiß ja nicht, welche 5 Wallboxen es konkret am Ende sind).

Es ist gesamtwirtschaftlich gut und richtig, die Beladung gegen den Markt zu optimieren. Ich bin überzeugt, dass in den allermeisten Fällen Flexibilität im Markt einen höheren Wert hat als im Netz. Daher sollte im Grundsatz das Netz ausgebaut werden, um diese Optimierung zu ermöglichen. Auch hier gilt die grundsätzliche Logik wie für den Fall ohne Optimierung: Es muss nicht bis zur allerletzten kWh geschehen – orthodoxes Vorgehen ist nie ein guter Ansatz bei komplexen Optimierungen, und irgendwann wird auch meine zentrale Annahme kippen, d. h. die marginalen Netzausbaukosten tatsächlich über den Opportunitätserlösen des Marktes liegen. Aber im Grundsatz sollte das Netz dem Markt folgen und nicht umgekehrt.

Und natürlich gilt: Bis der Netzausbau umgesetzt ist, muss die Kapazität eingeschränkt werden (es bleibt einfach keine Alternative). Die Frage, ob der Netzausbau von allen oder nur von Teilgruppen getragen werden sollte, ist letztlich eine politische. Persönlich hätte ich eine Präferenz für „alle“, da der Netzausbau nicht nur Elektromobilität ermöglicht, sondern sich bei der Frage einer Wärmepumpe auch der ÖPNV-Haushalt über ein gut ausgebautes Netz freut. Und vielleicht steigt ein ÖPNV-Nutzer ja auch mal um, wenn es klimaneutrale Elektromobilität ist. Klar ist für mich nur eines: Wer sich aus dem Solidaritätsverbund der Netznutzer herauslösen will, indem er Randoptimierungen (im Beispiel die 1/5 Einsenkung für 20 Minuten) nicht zulässt oder nicht warten und unabhängig vom Netzausbau schon vollumfänglich optimieren will, der sollte ein höheres Netzentgelt zahlen.

Die gesamtwirtschaftliche Grundüberzeugung, dass Flexibilität am Markt optimiert und das Netz daher ausgebaut werden soll, baut natürlich auch darauf, dass die einzelwirtschaftlichen Anreize richtig gesetzt werden. Ein zentraler Baustein ist hier die EK-Verzinsung, die die Netzbetreiber für ihre Investitionen erhalten. Ist diese zu niedrig angesetzt, werden Netzbetreiber in Investitionsvermeidungsstrategien gedrängt, die dann auch auf Flexibilität zugreifen würden, auch wenn die Flexibilitätsnutzung im Netz gesamtwirtschaftlich ineffizient ist. Mit Blick darauf, dass alle Maßnahmen der Energie-, Mobilitäts- und Wärmewende des Koalitionsvertrags einen Netzausbau brauchen, hat der Koalitionsvertrag auch eine im europäischen Vergleich attraktive Verzinsung als Ziel gefordert. Ironischerweise hat zeitgleich zum Koalitionsvertrag die Bundesnetzagentur den Eigenkapitalzinssatz für die vierte Regulierungsperiode auf das im europäischen Vergleich niedrigste Niveau festgelegt. Für die Legislatur ist dieses Ziel des Koalitionsvertrags also schon verfehlt, bevor es mit den ganzen anderen Vorhaben erst richtig losgeht. Dass damit eine zentrale Größe für das gesamtwirtschaftliche Optimum in eine falsche Richtung zeigt, ist kein guter Start für die notwendigen Debatten zur Umsetzung der ambitionierten Ziele im Verteilnetz und zur Erfüllung des Koalitionsvertrags.

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