Die Geschichte bis hier: Die Corona-Krise im Jahr 2020 aus Sicht eines Verteilnetzbetreibers (1/3)

23.06.2021 | Auch hier zu finden im Web

Corona
Netze BW

Krisen und insbesondere deren Beherrschung sind ein wesentlicher Bestandteil des Geschäfts eines Verteilnetzbetreibers. In einem gewissen Sinne ist ihre Organisation für die Krise gemacht – ein Stromausfall ist für die Betroffenen eigentlich immer eine (kleine) Krise. Die Aufstellung im Betrieb orientiert sich auch an flächendeckenden Großstörungen, zum Beispiel nach einem Orkan, nach denen schnellstmöglich die Störungen der Stromversorgung beseitigt werden müssen. Für die Netze BW GmbH war hier im Krisenjahr 2020 insbesondere der Frühjahrssturm „Sabine“ eine Herausforderung, aber eben auch eine klassische. Unter widrigsten Umständen bei Wind und Wetter und oft bei Nacht im Akkord die Stromversorgung buchstäblich zusammenzuflicken, damit die Kunden schnellstmöglich wieder Strom haben – das kommt bei Herbst- und Frühjahrstürmen regelmäßig vor.

Aber natürlich bereitet man sich als Netzbetreiber auch auf andere Störungen vor. Und in der Tat wurde im EnBW-Konzern, dem die Netze BW GmbH angehört, in den letzten Jahren regelmäßig auch das Szenario „Pandemie“ geübt. Wie grau ist die Theorie und vor allem: Wie schön ist die Krisenübung, bei der die Krise im Rahmen eines ordentlichen Arbeitstages morgens beginnt und abends zum Dienstschluss vorbei ist. Aber deshalb ist ja alle Theorie grau: Den einen wesentlichen Punkt der Corona-Krise – dass sie über einen so langen Zeitraum geht – kann man einfach nicht üben. Im Weiteren möchte ich hier über die Erlebnisse eines Verteilnetzbetreibers in dieser Corona-Krise im Jahr 2020 berichten. Ich gliedere meine Berichtspunkte und Anmerkungen in drei Abschnitte, vom Speziellen zum Allgemeinen. Im ersten Abschnitt habe ich den Fokus auf die Auswirkungen und Handlungen der Netze BW GmbH. Dann ziehe ich den Radius größer und betrachte die Effekte in der ganzen Branche, um abschließend ein paar Überlegungen anzustellen, was uns Corona für die nächste kollektiv zu bewältigende Herausforderung des Klimaschutzes lehren kann.

Anmerken möchte ich, dass ich aus unseren (Netze BW) bzw. meinen ganz persönlichen Erfahrungen berichte. Hier und da habe ich in der Branche einen unterschiedlichen Umgang bei einzelnen Fragestellungen wahrgenommen, zum Beispiel bei der Frage der Kasernierung der Leitwarten. Mir ist das Verständnis wichtig, dass es hier kaum ein „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. Wir alle haben eine derartige Krise zum ersten Mal mitgemacht. „Richtig“ ist, was funktioniert – und funktioniert, im Sinne von sicherer Stromversorgung, haben alle deutschen Stromversorger.

 

Corona bei der Netze BW GmbH

Die EnBW Energie Baden-Württemberg AG und damit auch die Netze BW GmbH hatten das Thema Corona schon seit Januar 2020 auf dem Schirm. Sehr im Hintergrund hatte sich eine Krisen-Taskforce gebildet, die bereits vereinzelt Regelungen erlassen hatte, die aber nur einige wenige und kleine Bereiche des Unternehmens betrafen – insbesondere in Bezug auf Dienstreisen ins entferntere Ausland, vor allem Ostasien. Das „BW“ in Netze BW steht für Baden-Württemberg und entsprechend kommen Ostasienreisen eher selten vor … Das änderte sich schlagartig zu Beginn der Faschingsferien, als Südtirol zum Risikogebiet erklärt wurde. Davon waren wir mit unserem Stammland Baden-Württemberg sehr betroffen, die Faschingsferien heißen hier im Südwesten nicht ohne Grund auch „Skiferien“. Mit der Risikogebietserklärung kamen auch die ersten umfangreichen Hygienemaßnahmen, zu denen die Bevölkerung aufgefordert wurde. Gerade in einem Flächenunternehmen – die Netze BW GmbH hat ca. 5.000 Kolleginnen und Kollegen an über 80 Standorten in Baden-Württemberg – hatte dies spürbare Auswirkungen. Wir haben eine motivierte und verantwortungsbewusste Mannschaft, und aus den klassischen Krisen („Sabine“) sind es die Führungskräfte vor Ort gewöhnt, schnell selbst zu entscheiden, wie man mit einer Situation umgeht. So machte sich nun jede und jeder daran, wie die Vorgaben des RKI und des Bundesgesundheitsministeriums für ihr Team umgesetzt werden sollten. Kompliziert wurde die Situation dadurch, dass unser Arbeitsmedizinische Dienst sehr klar und eindeutig empfahl, gleich ganz Italien für uns als Risikogebiet zu definieren. Diese Ansage bewies bemerkenswerten Weitblick und hat uns sicher vor vielen Ansteckungen im Betrieb bewahrt – kurzfristig bzw. kommunikativ wurde die Lage mit diesem Abweichen von der RKI-Linie nicht einfacher.

Kommunikation ist das A und O in jeder Krise – das war mir aus den bisherigen Krisen, die ich in meinem Arbeitsleben zu managen hatte, bewusst. Aber nie habe ich es so deutlich erfahren, wie mit Beginn der Corona-Krise. Gerade zu Beginn einer Krise kann man nicht überkommunizieren und Kommunikation wird fast schon zum Selbstzweck. Man kann es durchaus überspitzt formulieren: Es ist besser, falsch zu kommunizieren, als nicht zu kommunizieren (falsch nicht im Sinne von „lügen“, sondern bewusst sichere Fehler aus unzureichendem Wissen in Kauf nehmend). Wenn alle aufgeregt herumlaufen, dann ist das Ausrichten aller auf eine Richtung der erste Schritt – diese Richtung kann sogar falsch sein. Erst wenn alle ausgerichtet sind, kann man alle in die richtige Richtung führen. Und gerade in den ersten Stunden und Tagen der Krise waren für mich „Ausrichtung“ und „Struktur in der Krisensituation“ die dringendsten Themen. Ich weiß nicht, wie oft ich auf allen Kanälen den Satz „Wir folgen den Anweisungen und Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums und des RKI in konkreter Umsetzung des Arbeitsmedizinischen Dienstes der EnBW!“ geschrieben bzw. gesprochen habe. Die Diskussionen waren mannigfaltig – das ist nur eine Grippe, das ist alles Panikmache, ich fahre nicht Ski, das wird gar nicht so schlimm, … nein: Wir folgen den Anweisungen und Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums und des RKI in konkreter Umsetzung des Arbeitsmedizinischen Dienstes der EnBW!

Im Konkreten sind wir zu täglichen Geschäftsführungssitzungen übergegangen, wobei wir den Teilnehmerkreis um die wesentlichen operativen Leiter erweiterten, um zeitnah und zentral zu entscheiden. Die Protokolle dieser Sitzungen wurden schon im Entwurf zeitnah bis auf die zweite Berichtsebene verteilt. Eine kurzfristig eingeleitete Krisenmaßnahme war im „Innendienstbereich“ ein umfassendes Homeoffice. Segensreich wirkte sich hier zum einen aus, dass der EnBW-Konzern schon seit Jahren einen Laptop als die Standardausstattung auch für Büroarbeitsplätze vorsah. Zum anderen konnte Ende 2019 die Office365-Umstellung abgeschlossen werden. Persönlich überrascht hat mich dann aber doch, wie gut und reibungslos das alles funktionierte – ab Mittwoch, dem 11. März 2020, galt das „dringend empfohlene“ Homeoffice und rund 2.500 Kolleginnen und Kollegen bei der Netze BW GmbH und rund 7.000 im EnBW Konzern griffen fast gleichzeitig am Mittwochmorgen von zuhause aus ohne größere Probleme auf die Unternehmens-IT zu. Diese Linie des „dringend empfohlenen Homeoffice“ halten wir seit März 2020 durch und haben sie auch während der „gelockerten Sommermonate“ 2020 nicht zurückgenommen.

Eine andere Herausforderung waren die gut 2.000 Kolleginnen und Kollegen, die „draußen“, z. B. im Netzbau oder -betrieb, arbeiten. Hier haben wir zügig umfangreiche Anpassungen in den Arbeitsprozessen vorgenommen, so zum Beispiel, dass zwei Kolleginnen/Kollegen nicht mehr zusammen im selben Auto zu einer Baustelle fahren, Maskenpflicht auf Baustellen, wenn Abstände nicht eingehalten werden können, oder dass Arbeitsschritte auf Baustellen nacheinander durchgeführt werden, wenn für die jeweiligen Gewerke zwei unterschiedliche Kolleginnen/Kollegen benötigt werden. Den Prozess des Zählersperrens, in dem ja ein Monteur das Haus betreten muss – und das nicht unter den emotional günstigsten Voraussetzungen – haben wir komplett eingestellt. In der Branche gab es Diskussionen über den Roll-out der „modernen Messsysteme“ (für die nicht Branchensprache Kundigen: der Austausch der schwarzen, mechanischen Stromzähler durch neue graue, digitale Stromzähler, allerdings ohne Telekommunikationsanbindung, sonst wäre es ein „intelligentes Messsystem“). Hier sind in den nächsten Jahren Zielvorgaben zu erreichen, wenn man den Status eines grundzuständigen Messstellenbetreibers halten möchte. Wir haben mit dem Roll-out umgehend nach der Einführung des Gesetzes zur Digitalisierung begonnen und hatten daher ausreichend „Luft“ gegenüber den Zielvorgaben, so dass wir den Zählertausch ohne Probleme aussetzen konnten.

Kommunikativ mussten wir mit Blick auf die Betroffenheiten in der Belegschaft aufpassen, gerade die „draußen“ arbeitenden Kolleginnen und Kollegen nicht zu „verlieren“. In der Unternehmenskommunikation war die Homeoffice-Situation sehr präsent. Dies schloss sich wohl der öffentlichen Diskussion an, insbesondere auch mit der sich schnell zeigenden Drucksituation vom gleichzeitigen Homeworking und Homeschooling. Bei der EnBW/Netze BW schwang zusätzlich auch die Begeisterung über die so gut funktionierende IT des Homeoffice mit. Die „Druckposition“ der Kolleginnen und Kollegen in der Fläche war eine ganz andere – die Familie saß komplett zuhause, Kinder und Partner gingen nicht mehr vor die Tür, d. h. der Kollege bzw. die Kollegin war der Risikofaktor in der Familie, der mit seiner beruflichen Tätigkeit „draußen“ die Gesundheit seiner Familie riskierte. Daher waren meine Geschäftsführerkollegen und ich in den Wochen des Lockdowns immer wieder vor Ort in den Betriebsstätten, um die Situation mit den Kolleginnen und Kollegen zu besprechen und einfach zu zeigen, dass wir dieses Problem sehr wohl sahen und dankbar für ihren Einsatz waren.

Eine besondere Situation waren die Leitwarten, insbesondere unsere Hauptschaltleitung in Esslingen, von der aus wir unser Stromnetz steuern. Schon zwei Wochen vor dem Lockdown hatten wir hier erste Maßnahmen ergriffen. Acht Kollegen, die mit dem ÖPNV zur Arbeit kamen, hatten wir ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt. Wir hatten weiterhin die Warte komplett vom üblichen Betrieb getrennt, d. h. separater dezidierter eigener Zugang ohne Kontakt zum übrigen Unternehmen, kein Kantinenbesuch mehr, etc. pp.

Wir haben sehr wohl gesehen, dass einzelne Branchenunternehmen dazu übergingen, ihr Wartenpersonal zu kasernieren. Wir haben dies für uns auch überlegt, und natürlich sind wir in unseren Warten auch auf eine Kasernierung vorbereitet. Abgesehen von den umfangreichen arbeitsrechtlichen Aspekten, die bei so einer Maßnahme zu berücksichtigen sind, erschien uns dieser Ansatz nicht zur Situation zu passen. Die Vorstellung, dass ein Wartenmitarbeiter in der Warte bleibt, wenn sein Partner oder seine Eltern mit schwerem Verlauf an Corona erkranken, hielten wir für sehr theoretisch. Unsere Konzepte zur Kasernierung, die dann eher die allerschlimmsten Umfeldszenarien unterstellen, sehen daher durchaus auch ein Miteinrücken der Familie vor (die in diesen Szenarien wahrscheinlich dann auch gerne mitkommt). Unser Vorsorgedenken und -arbeiten zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung ging daher in Richtung isolierter Wartenarbeitsplätze, in denen dann infizierte, aber noch arbeitsfähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten können oder – bei weitflächiger Corona-Ausbreitung in der Organisation - ganze Schichten solcher Kolleginnen und Kollegen.

Die Beachtung des familiären Umfelds ist für mich ein Punkt, den wir in zukünftiger Krisenplanung mehr berücksichtigen müssen. In unseren in den Vorjahren geübten Pandemieszenarien war es – graue Übungstheorie – eine einfache Zahl von hochlaufenden erkrankten Kolleginnen und Kollegen, deren Ausfall ein Problem darstellte. Dass eine Pandemie eben nicht zwischen beruflichem und privatem Umfeld unterscheidet und sich private Situationen deutlich auf das Verhalten von Kolleginnen und Kollegen auswirken, müssen wir in unserer Krisenplanung stärker berücksichtigen. Wir tun dies in der aktuellen Krise nach meiner Wahrnehmung gut und angemessen – es für andere Krisensituationen und -szenarien systematisch durchzudenken ist ein „to do“, das ich für die Zeit nach der Krise auf meinem Zettel habe.

Teil 2 findet sich hier und Teil 3 hier.

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