Bürgen Sie nie und gründen Sie keine OHG – aber vielleicht einen Expertenrat

08.06.2022 | Auch hier zu finden im Web

EuGH
Regulierung

Im zweiten Semester meines VWL-Studiums an der WWU Münster hatte ich die Vorlesung „P-Recht“ (Privatrecht) zu belegen, gelesen von Professor Bernhard Grossfeld. Professor Grossfeld machte keinen Hehl aus seinem Zweifel, angehenden Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern in nur einem Semester wirklich tiefere Kenntnisse der Jurisprudenz zu vermitteln. Der aus seiner Sicht wichtigste Lerninhalt kam am Anfang jeder (jeder!) Vorlesung: „Bürgen Sie nie und gründen Sie keine OHG!“. Dieser Satz wurde in den folgenden 90 Minuten noch zwei bis dreimal spontan wie eigentlich immer unpassend eingeschoben, bevor – völlig egal worum es tatsächlich gegangen war – mit „Ich fasse das Wichtigste zusammen: Bürgen Sie nie und gründen Sie keine OHG!“ die Vorlesung beendet wurde.

Öfter fiel auch der Satz „Eigentlich müssen Sie sich das nicht fürs Leben merken, das macht später alles die juristische Abteilung für Sie.“. So gut sein Rat zur Bürgschaft und zur OHG auch war, da irrte Professor Grossfeld. Nicht alles macht die juristische Abteilung, denn in den letzten großen Entscheidungen zur Energieregulierung (Xgen und EK-Zins) hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass ökonomische Regulierungsfragen zu kompliziert für die Behandlung in Gerichtsverfahren sind. Zitat: „[Der in Bezug auf BNetzA-Festlegungen] eingeschränkte Prüfungsmaßstab folgt aus den Grenzen der rechtlichen Determinierung und Determinierbarkeit der Aufklärung und Bewertung komplexer ökonomischer Zusammenhänge“. Das Bundesverwaltungsgericht hatte es 2007 bei einer Telekommunikationsentscheidung eleganter formuliert: „Doch kann ein gesetzlich vorgegebenes Entscheidungsprogramm wegen hoher Komplexität oder besonderer Dynamik der geregelten Materie so vage und seine Konkretisierung im Nachvollzug der Verwaltungsentscheidung so schwierig sein, dass die gerichtliche Kontrolle an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung stößt.“ In Bezug auf die ökonomischen Fragen der Energieregulierung ist also die ernüchternde Nachricht, dass die „juristische Abteilung“ bzw. weiter gefasst „die juristische Kunst“ sich damit nicht mehr befasst, weil es zu fachfremd und dabei gleichzeitig zu komplex ist.

Für die von Regulierungsentscheidungen betroffenen Unternehmen ist diese Arbeitsverweigerung der Gerichte recht ernüchternd, auch wenn sie grundsätzlich nachvollziehbar ist. Auch eine studierte Volkswirtin bzw. ein studierter Volkswirt muss bei der Frage nach dem Unterschied eines Laspeyres- und eines Paasche-Preisindex kurz nachdenken und beim Unterschied zwischen dem Törnquist- und Malmquist-Ansatz zur Produktivitätsmessung sehr wahrscheinlich die Waffen strecken. Es gibt in der Tat nur wenige Professorinnen und Professoren, die sich tiefer mit Törnquist/Malmquist beschäftigen. Aber heißt das am Ende, dass es keinen Rechtsschutz gibt, wenn es kompliziert wird?

Neben der P-Recht-Vorlesung gab es im Rahmen meines VWL-Studiums auch noch eine Ö-Recht-Vorlesung. Aus der habe ich immerhin die Definition der Verhältnismäßigkeit mitgenommen. Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen ist. Dieser Maßstab lässt sich natürlich auch auf die Frage anwenden, wie die Gerichte bei der zweifellos vorhandenen inhaltlichen Überforderung bei der Überprüfung komplexer, weil juristisch-fachfremder Behördenentscheidungen vorgehen sollen. Ist die vom BGH unterstellte Lösung des Gesetzgebers, nämlich der feste Glaube an die schon richtige Entscheidung der Regulierungsbehörde, hier verhältnismäßig? Sie ist sicher geeignet und (in Bezug auf den festen Glauben daran) dann wohl auch erforderlich. Aber es gibt definitiv angemessenere Möglichkeiten als blindes Vertrauen in die Entscheidungen der Regulierungsbehörde. Einen Ansatz haben wir von Seiten der Netze BW GmbH vorgeschlagen: Einen unabhängigen Expertenrat mit institutioneller Untermauerung sowohl in Bezug auf die rechtliche Stellung als auch auf die Ressourcenausstattung.

Dieser Expertenrat könnte dann eine echt unabhängige inhaltliche Überprüfung der Regulierungsentscheidungen sicherstellen. Sein Fokus soll (ausschließlich) auf der inhaltlichen Seite der Entscheidung liegen und insofern würde seine Arbeit den Gerichtsverfahren vorgeschaltet sein. Zu hoffen wäre, dass bei einer entsprechenden Äußerung des Expertenrates Gerichtsverfahren vielleicht gar nicht mehr nötig wären, weil entweder Unternehmen von einer Klage absehen oder die Behörde ihre Entscheidung überdenkt. Auf jeden Fall würden Gerichtsverfahren schneller laufen, weil Gutachterauswahl (die allein dauert mitunter schon Monate) und – eine Expertenratsstellungnahme sollte ja vorliegen – auch die Erstellungszeit für das Gutachten wegfielen.

Seitdem wir unseren Vorschlag gemacht haben, wurde mir schon ein paar Mal vorgehalten, wir hätten diesen Vorschlag nur gemacht, weil wir die letzten beiden großen BGH-Verfahren verloren hätten. Das greift zu kurz – es geht uns nicht um einen „anderen Gerichtshof“, verbunden mit der Hoffnung auf dort dann mehr Brancheneinfluss. Dies zeigt sich vielleicht schon darin, dass gemäß unserem Vorschlag der Expertenrat vollständig unabhängig besetzt werden soll, also auch anders als beispielsweise die Monopolkommission, dezidiert ohne „Industriemitglied“. Und es geht uns um etwas Grundsätzlicheres – um (neudeutsch) „Checks & Balances“ für Regulierungsentscheidungen.

Historisch gab es zwei große Linien der Checks & Balances für die Bundesnetzagentur. Zum einen die gerichtliche Überprüfung auch der inhaltlichen Seite der Entscheidungen der Bundesnetzagentur (als dem BGH diese Überprüfungen noch nicht zu komplex waren, hat die Netze BW GmbH einige sehr komplexe Verfahren zu den Indexreihen und auch zum Xgen letztinstanzlich gewonnen – wir hatten nach Sicht des BGH also Recht, würden es heute aber vor dem BGH nicht mehr bekommen). Zum anderen ist die Bundesnetzagentur eine dem Bundeswirtschaftsministerium nachgeordnete Behörde. Die Beschlusskammern der Behörde sind unabhängig, aber am Ende konnte das Ministerium über Verordnungen immer grundsätzliche Richtlinien geben und Vorgaben machen – „… konnte …“ – denn die Entscheidung des EuGH zur Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur hat auch diese zweite Kontrolllinie unterbunden – die Bundesnetzagentur muss bei Fragen der Regulierung entscheidungsfrei sein. Das Bundeswirtschaftsministerium und letztlich der Gesetzgeber darf im Bereich des Netzzugangs über Gesetze und Verordnungen keine Vorgaben mehr machen.

Für den deutschen Rechtsrahmen schafft das eine ungewöhnliche Situation, denn mit der EuGH-Vorgabe wird es kaum noch rechtliche Anhaltspunkte geben können, mit denen dann die verbleibende formaljuristische Überprüfung von Regulierungsentscheidungen noch vorgenommen werden kann. Gleichzeitig erscheint es ungewöhnlich und nicht richtig, dass eine Behörde weitreichende und große Entscheidungen treffen kann, ohne eine inhaltliche Überprüfung ihrer Entscheidungen berücksichtigen (befürchten?) zu müssen. Ein Expertenrat in echter formaler Unabhängigkeit von Regulierungsbehörde, Branche und Politik könnte diese Lücke füllen und Checks & Balances sicherstellen. Mit Blick auf das, was wir uns in der Energiewende vorgenommen haben, ist diese Hinterfragung und Überprüfung von Entscheidungen aus meiner Sicht auch im Sinne der Bundesnetzagentur. Die Diskussionen rund um Netzregulierung und auch Energiewende finden ja nicht nur zwischen Bundesnetzagentur und Netzbetreibern statt – es ist für alle beteiligten Gruppen immer leicht, einsame Behördenentscheidungen zu kritisieren. Unweigerlich wird die Bundesnetzagentur sich auch mal irren. Und wenn das passiert, werden immer einige der vielen Gruppen es auf jeden Fall schon vorher gewusst haben und dies der Behörde dann wohl auch „dick aufs Brot schmieren“… Ich sehe den Expertenrat als Verbündeten der sachlich richtigen Entscheidungen an, und mit Blick auf die Diskussionen der letzten Jahre kann die sachlich richtige Entscheidung einen Verbündeten gut gebrauchen.

Zum Schluss bleibt nur noch der Hinweis auf die unten angefügte Materialsammlung zu unserem Vorschlag des Expertenrats und natürlich – ganz wichtig – bürgen Sie nie und gründen Sie keine OHG!

Material zum Expertenrat:

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